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Der Turm

Der Turm

Titel: Der Turm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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Luken im Stacheldraht in die Kulturen fremder Länder spähten; Periskope, die Manuskripte schon kannten, wenn sie noch auf den Schreibtischen trockneten; mit größter Liebe und Sorgfalt wählten wir aus, was wichtig, richtig und wertvoll erschien … Ein treibender Kopf, ein auf Inspektionsreise befindlicher Jupiterkopf schwamm durch die Papierrepublik. Wir ankerten in Weimar, unsere Nabelschnur hing am Frauenplan; dort ging, eine Mutterkuchen-Scheibe, unsere Sonne auf, Fixstern Goethe … Menschen, beseelt von der Liebe zur Literatur, zum Wort, zum gutgemachten Buch (endlose Diskussionen bei Tee und »Juwel« über die Nachteile der Klammer- und die Vorteile der Fadenheftung, über Satzspiegel, Stegbreiten, Schriften, Einband- und Vorsatzblattfarben, die Qualität des Bindeleinens) hockten in den Kajüten der Gelehrteninsel und beugten sich jahrelang über rumänische und aserbaidschanische Lyrik, Übersetzungen aus dem Persischen, Grusinischen, Serbokroatischen, deren Qualität (und nur die der Übersetzung) von Redakteuren überprüft worden war, dachten mit eigens angestellten Stilredakteuren darüber nach, ob jemand mit »Jesuslatschen« oder nicht doch besser mit »Christussandalen« die Literatur betreten könne, und hinter ihnen, in den Wänden, den Heizungen, aus deren runzligen, knackenden und aus der Tiefe sonderbare Verdauungsgeräusche fördernden Rohren Dampf abwich, in den altfränkischen Schreibmaschinen und der behende bedienten Manufaktur aus Leimtöpfen, Scheren, Falzbeinen und »Barock«-Tintenfäßchen mit Eisengallustinte (manchmal glaubte ich,das Kratzen von Gänsekielen auf dem Konzeptpapier aus dem VEB Papierfabrik Weißenborn zu hören; aber es waren nur die handelsüblichen ATO-Federn, mit denen die Glasperlenspieler Notizen oder Entwürfe zu Gutachten kritzelten); in den Mahl- und jahreszeitlich wechselnden Schmatzgeräuschen des Flusses schabten die Uhren, gor die Zeit, die meßbare, griesig und submarin, während das Pendel der anderen Zeit, die den Dingen Entwicklung und Wandel gab, langsam wie ein Metronomweiser, an dem das Gewicht an die äußerste Spitze geschoben ist, hin- und hertorkelte … Wen erreichten wir? Manchmal hatten wir das Gefühl, an den Menschen abzuprallen oder, schlimmer, durch sie hindurchzuwerfen; nicht sie, sondern uns selbst zu sehen, wenn wir aus den Fenstern der Insel in die atlantischen Wohnungen zu blicken versuchten. Wer waren die anderen? Was erreichte sie von dem, das wir für wichtig hielten? Philosophen forschten in Gelehrtenstuben hoch über der Mauer an utopischen Sozialisten, ich dachte an Jochen Londoner, Exil in England, mit dessen Tochter Hanna ich verheiratet gewesen war, nun brütete er in seinem Institut, das einer trockenen barocken Holzschraube glich, über der Geschichte der Arbeiterklasse, sann den Problemen der sozialistischen Planwirtschaft hinterher, Sachgebietskärrner kommentierten die kanonischen Schriften, schlossen sich ans Blutgefäßsystem der MEGA an – Marx-Engels-Gesamtausgabe –, halfen, die Sonne der Einzigen Ideologie aufgehen zu lassen. Das Professorenkollegium tagt. Das Verbalerotiker-Kollegium tagt. Man redet sich die Köpfe heiß über einen entscheidenden, unverzichtbaren, lebensrettenden Aspekt des atlantischen Daseins: die Farbe der Häuserwände: War es Scheuerlappen- oder Abwaschwassergrau? Welches Abwaschwasser? Das der Interhotels oder das der Betriebskantinen? Volkseigenes oder privates? Hatten die verschmorten Karyatiden an Leningrader Palästen das Grau von Fensterkitt? Faunsohren, steinerne Pflanzen, der von Einschußklumpen blatternarbige Putz (Lymphknoten, Krebsflechten aus dem letzten Krieg) – welcher Grauton war es, den sie in Verfallsjahrzehnten angenommen hatten? Wir dachten an Grisaillemalerei. An Sorgengrau. Grisettengrau. Argusaugengrau. Gefängnisinsassenkleidungsgrau. An Herrenmodegrau, Schneckengrau, Groschengrau, Austerngrau, Baumbast, Wolfsgrau, Bleistiftgrau, Elefantengrau. War esnicht ein Braun, diese Farbe? Aschefarbe. Tonig-pulvrig, schal, holzig, von der Zeit, den Abgasen, dem sauren Regen hergestellt; der Putz wirkte flöhig wie das Zwiebackfell der Trampeltiere. Wir gerieten in die Zone der Rechtfertigungen. Was war es, das Große Projekt? Der Nachbau der Wirklichkeit, um sie nach unseren Träumen formen zu können …

64.
Fakultativ: Nadelarbeit
    Herr Pfeffer nahm die Goldrandbrille ab und musterte Christian aus zu Schlitzen verengten Augen. Auf der Nasenwurzel hatte der

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