Der Turm
Seife mal neben Ihre legen? Auf Ihrer zwinkert ja eine Katze, ganz unverwechelbar.«
Zahnärztin Knabe erzählte die Geschichte vom vertauschten Kind. Und während sie erzählte, sah Meno die Roecklers vor sich, Betreiber der gleichnamigen Tanzschule am Lindwurmring, deren Tochter die unerhörte Begebenheit, seit Monaten in vieler Dresdner Mund, zugestoßen war.
»Eines Tages ist die Silke Roeckler, die jüngste Tochter, in das Lazarett-Magasin gegangen. Man kann da hinein, die Posten lassen einen durch, und manchmal gibt es in diesem Magasin Sachen, die weder der Saftladen noch die Süße Ecke noch der Konsum haben.«
Meno hörte das Klacken der Abakuskugeln, das Zahnärztin Knabe lautmalerisch nachahmte, wobei ihr stolzer Busen zur Freude der Herren im gegenüberliegenden benachbarten Duschverschlag reizvoll gegen die Kunststofftür drückte. Frau Roeckler war klein und wächsern blaß in ihrem weißen Plisseekleid zu den Goldlamé-Schuhen, die sie während der Tanzstunden als Partnerin des in schwarzen Frack gekleideten Ehemanns trug. In tadelloser Haltung, puppenhaft geschminkt, anmutig wie eine Porzellanfigur von Kändler, schwebte sie wie ein Hauch, das noch immer schwarze Haar zu einer Fünfzigerjahrefrisur aufgeglänzt, über den Schachbrettboden in der ersten Etage der Tanzschule, begleitet vom nieselnden Flügel an der bleichblättrigen Monstera, auf die, wenn der mittlere Straßleuchter eingeschaltet wurde, der Schatten eines von der Stuckdecke herabhängenden, aus der Vogelhandlung Bassaraba stammenden, ausgestopften Baumfalken fiel.
»Sie ist in das Magasin gegangen, weil sie dort, glaube ich, Apfelsinen hatten, außergewöhnlich für August, und als sie wieder herauskam, fand sie ein fremdes Kind in ihrem Kinderwagen.«
– Pliés, Pirouetten, komplizierte Tangofiguren: Eduard Roeckler schien dafür geboren zu sein, obwohl das Tanzen nicht immer sein Beruf gewesen war; seine Leidenschaft war es, wie überhaupt die Kunst; Leidenschaft und Schönheit, die sie vermitteln kann, berührten ihn tief. Er wollte Maler werden, belegte an der Kunsthochschule einen Kurs für mikroskopisches Zeichnen, der ihm im Krieg, wo es ihn bis Königsberg und Riga verschlug, das Leben rettete; er lernte eine Frau kennen, ebenjene schwebende Magdalene Roeckler, die aus einer Tanzlehrer-Dynastie stammte; auch er wollte nur noch tanzen nach diesem Krieg. Von seiner Leidenschaft für das Malen und das mikroskopische Zeichnen zeugten Hunderte von Bildern an den Wänden seiner Tanzsäle; große Spiegel, wie sie in anderen Tanzschulen aufgehängt waren, hielt er für unnütz: »Wenn schon Spiegel, dann ein nahes Gesicht«, pflegte er zu sagen.
»Der Posten rief nach einem Arzt, an diesem Tag war der Mikrobiologe des Lazaretts da, Doktor Varga, der Rumäne. Der gab ihr eine Spritze, und sie kam wieder zu sich. Das fremde Kind hatte viele Operationen gehabt, wie dann festgestellt wurde. Silke Roeckler schrie, sie war völlig hysterisch.«
»Wie können Sie so reden, Frau Knabe«, murrte Herr Kühnast. »Sie haben ja keine Kinder. Versetzen Sie sich doch mal in die Lage der armen Frau, einfach furchtbar. – Was geschah dann?«
»Natürlich wurden sofort Ermittlungen angestellt. Der gesamte Lazarettkomplex, alle Russenvillen auf dem Lindwurmring und in der Grünleite wurden abgesperrt.«
Und Meno erinnerte sich, wie man ihn gebeten hatte, zu dolmetschen, denn auch er hatte erfahren, daß es Apfelsinen im Magasin geben sollte und war, um Anne eine Freude zu bereiten, an diesem Tag, einem heißen Freitag im August, früher aus der Dresdner Edition nach Hause gefahren; Barbara, die er angerufen hatte, war aus der Pelzschneiderei »Harmonie« gekommen; eine Frau hatte ihn angeblickt und: »Sie sind ja auch so einRussenknecht«, gesagt, leise, aber deutlich hörbar. Der Lazarettkommandant war verzweifelt, er versprach, alles in seiner Macht Stehende zu tun, um die Sache aufzuklären und das richtige Kind wieder herbeizuschaffen.
»Es ist nicht gelungen, sie haben das Kind bis jetzt nicht gefunden.«
»Wie alt war der Junge?« fragte Herr Kühnast.
»Acht Monate. Das falsche Kind ungefähr ebenso alt.«
»Aber dann muß man das doch rauskriegen können. Das Kind muß von einem Spezialisten operiert worden sein, den kann man doch finden, Frau Knabe. Und der wiederum wird doch wohl die Mutter kennen.«
»Irgendwo an der russischen Grenze, habe ich gehört, verliert sich jede Spur.«
»Vertuschung. Man hält’s nicht für
Weitere Kostenlose Bücher