Der Turm
die Verlorene Zeit, schlug die Seite auf, las und begann zu fragen. »Machen Sie sich am besten Notizen«, sagte der Philosoph. »Wen er einmal für wert befunden hat, Proust zu lesen, kommt nicht aus der Nachtschicht heraus, ehe er das gesamte Werk kennt.«
Sie waren zu fünft; die anderen vier B-Schichtarbeiter, alle Philosophen, wenn auch aus unterschiedlichen Schulen, lieferten einander die ganze Nacht lautlose, aber erbittert, mit eiligem Bleistift auf Konzeptpapier gekritzelte, Dispute über Entfremdung in der Entwickelten Sozialistischen Gesellschaft.
65.
In unserer Hand
»Richard.«
»Anne.«
»Kann ich mit dir reden.«
Richard trat vom Schraubstock zurück, in dem ein Ersatzteil für den Gasdurchlauferhitzer steckte, improvisiert und zurechtgefeilt nach einer Konstruktionszeichnung, die Ingenieur Stahl angefertigt hatte. »Gehen wir?«
»Nicht nötig. Die uns zuhören, wissen genausoviel wie wir. Oder willst du frische Luft schnappen? Ich würde, was du in diesem Keller atmest, keine fünf Minuten aushalten.«
Oben, im Wohnzimmer, sagte sie: »Ich kann nicht mehr, Richard. Ich habe lange geschwiegen und zugesehen. Aber diese Reina, diese Studentin … das war zuviel. Wir«, Anne lachte plötzlich auf, »müßten uns jetzt eigentlich streiten, aber, weißt du, ich mag nicht, ich … habe auch keine Kraft.«
»Ja, Anne«, murmelte Richard. Er berührte einige Dinge: Sofapolster, die Kante eines Schranks. »Ist Reglinde da?«
»Sie ist ausgegangen. Der Brief auf dem Tisch ist von Robert.« »Ich weiß, ich … habe ihn gelesen. Es geht ihm wohl ganz gut.« »Besser als Christian. Aber du sagst ja, daß Christian ein wenig zum Übertreiben neigt, wie nennst du das … Bramabas, bramasieren, ich krieg’s nicht zusammen.« Wieder lachte sie.
»Ja, Robert. Er hat nie so viele Probleme gemacht. Und doch – vielleicht sagt er nur nichts, weil das schon Christian, gewissermaßen … es ist schon Christians Stil, und vielleicht will Robert nicht so sein.«
»Die Standuhr, Richard, kannst du sie nicht anhalten? Ich kann das Ticktack nicht ertragen, es tut mir weh. Soll ich dir was zu trinken holen?«
»Ich kann auch gehen.«
»Du findest doch nichts. Was wolltest du noch sagen?«
»Es hat mir nichts bedeutet, Anne.«
Sie nickte, ging nach vorn. Richard hörte sie in der Küche hantieren, Eiswürfel klirrten in Gläser; er hielt das Uhrenpendel an. Es wehrte sich gegen den Stillstand, begann sich aus Mikroschwingungen wieder einzutakten, Richard mußte eins der Bleigewichte aushängen, legte es behutsam in den Uhrenkasten. Aus dem Flur hörte er Scheppern, das dumpfe Rumpeln eines Falls. Annes rechte Hand steckte voller Glassplitter.
»Wir müssen in die Klinik«, sagte Richard. Er überlegte einen Augenblick, dann rief er im Friedrich-Wolf-Krankenhaus an. »Barsano. – Ja, Sie können den Saal nutzen. Ich lasse alles vorbereiten.«
»Weißt du, damals auf der Hochzeit, in der Kirche, hast du dich verraten«, sagte Anne. Richard steuerte den Lada, fuhr unkonzentriert, überlegte, daß es besser gewesen wäre, mit dem Taxi zu fahren – nein. Taxis waren rar, sie hätten womöglich stundenlang auf eins gewartet. Einen Krankenwagen zu rufen war ihmseltsamerweise nicht eingefallen. Anne starrte auf die verbundene Hand. »Du hast geantwortet, als ich dich fragte, ob du den Jungen kennst: Nein. Vielleicht der Sohn eines Patienten. Woher wußtest du, daß es nicht der Sohn von Wernsteins Freund war?«
»Sie ist unsere Chefsekretärin«, entgegnete Richard müde. Die rote Nadel wanderte unruhig über die langgezogenen Zahlen des Tachometers. Er steuerte routinemäßig, als täte das ein anderes Lebewesen in ihm, ein Strichmännchen aus ein paar Nervenbahnen und zugeschalteten Muskeln. Wie fremd und dabei wichtig all dies war: Armaturenbrett, die Bäume an den Straßen, der Zündschlüssel.
»Dann hättest du nicht vielleicht gesagt. Übrigens habe ich Lucie schon gesehen. Hübsches Mädchen, sie hat viel von dir.«
Im Krankenhaus war alles vorbereitet worden. Frau Barsano bot an, Richard zu assistieren.
Annes Hand. Die Hand meiner Frau, dachte er. Weiß und blutleer (eine Schwester hatte den Arm ausgewickelt) lag sie im grellen, spöttischen Schein der OP-Lampe.
Eine Hand – was sie tut, ist das eine. Ein Stück Körper, Körper selbst, Gehilfe von Inszenierungen; beredte, scheinlose Wahrheit. Handlung, dachte Richard, dabei ist so vieles Fußlung oder Wortlung oder Schweiglung. Was sie verhindert,
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