Der Turm
Brillensattel einen dunkelroten Abdruck hinterlassen. »Mal sehen, was mir Ihr Chef geschickt hat. Sie haben Abitur?«
Christian bejahte. Mit einem weißen, gebügelten Seidentaschentuch wischte Pfeffer die Brillengläser blank.
»Sie wollten Medizin studieren?«
Christian bejahte wiederum. Pfeffer prüfte die Brillengläser, rollte eine Ecke des Taschentuchs zu einem fingerlangen Zapfen, mit dem er den haarfeinen Streifen unter der goldenen Brillenfassung säuberte, wo die Glasfase lief. »Mediziner mag ich nicht so sehr. Standesdünkel, in der Regel musisch und deshalb in der Regel der irrigen Auffassung, das Musische komme aus dem oder sei das Laisser-faire. Nun, zugegeben, es gibt auch andere Exemplare Ihrer Spezies. Vielleicht sind Sie ein solches anderes Exemplar. Das festzustellen werden wir Gelegenheit haben. Mit Philosophen und mit Modellbauern, mit vielen Zeichnern aus der sächsischen Schule habe ich recht gute Erfahrungen gemacht. Was bedeutet Genauigkeit für Sie?«
Mitten im strengen Winter 86/87, in dem er auf einen anderen Arbeitsplatz versetzt werden sollte, wußte Christian auf diese Frage keine Antwort.
»Genauigkeit, junger Mann, ist Liebe. Ich werde Ihnen eine Chance geben, obwohl es wahrscheinlich ist, daß das Karbid Sie völlig verdorben hat für die Art von Arbeit, die bei mir gepflegt wird.« Er hauchte die Gläser an, polierte, kontrollierte, bis sie makellos blinkten.
Traugott Pfeffer, ehemals Leitender Angestellter der Staatlichen Münze, jetzt Meister im VEB »Phalera«, der eigensinnigerweise zur Abteilung Konsumgüterproduktion des Chemischen Kombinats gehörte, hatte seine Methoden, sich von der »ausgezeichneten Qualitätsarbeit« zu überzeugen, die im Betrieb geleistet wurde – die Urkunde hing über seinem Tisch in der Meisterbude, einem Vogelnest aus Wellblech über der Werkhalle, das freie Rundumsicht gewährte. Unter ihm saßen an einem Werkbankkreis, dessen Plätze Blick auf die vergitterten Hallenfenster boten, die zehn Männer der A-Schicht, alle in der verblichenen, aber peinlich reinen Sträflingskleidung, die der VEB »Phalera« stellte – ein untertassengroßes, aufgesticktes Staatswappen prangte auf der Herzseite –, und waren damit beschäftigt, aus Metall- und Polyester-Rohlingen Orden, Medaillen und Plaketten anzufertigen. Der frühere Münzmeister Traugott Pfeffer verwendete ein in doppelter Kardanaufhängung wie ein Schiffschronometer schwenkbares Fernglas des Volkseigenen »Betriebs ausgezeichneter Qualitätsarbeit« Carl Zeiss Jena, das ihm persönlich gehörte und mit liebevoller, entsprechender Gravur versehen war, um »seinen Pappenheimern«, wie er sagte, zu denen nun auch Christian gehörte, im Uhrzeiger- und im Buchstabensinn auf die Finger zu sehen. Eine zweite Kontrollmethode, die unspektakuläre, wie Traugott Pfeffer sagte, für den das Unspektakuläre zur Kunst gehörte wie Brot zur Ernährung, bestand in der exakten Untersuchung der Werkstücke. Dazu zog er eine Spezial-Meßlehre aus der rechten Hüfttasche seines grauen, stets gebügelten Kittels, legte ihre die Hundertstel Millimeter lesende Skala an die Durchmesser der »Medaille für vorbildlichen Grenzdienst«, der Clara-Zetkin-, der Hans-Beimler-Medaille, prüfte den Abstand zwischen den Grannen der drei Ähren auf der Medaille »Verdienter Erfinder«, zählte auf dem Rundling »Hervorragender Genossenschaftler« die Strahlen der aufgehenden Sonne, in der, genau in der Mitte, eine großbuschige Weizenähre steckte, kontrollierte die Anzahl der Nadeln des zehnspitzigen, strahlenförmigen Sterns des Vaterländischen Verdienstordens.
Zu Christians Aufgaben gehörten die folgenden Arbeitsgänge: Montags Griff in die Materialpalette links, Entnahme eines Rohlings des Ordens »Großer Stern der Völkerfreundschaft«,Variante Bruststern, kurze Kontrolle desselben, Griff in die Materialpalette rechts, Entnahme einer bronzenen Anstecknadel aus dem VEB »Solidor«, kurze Kontrolle derselben, Griff zum Lötkolben, Befestigung der Anstecknadel durch Verlöten am Großen Stern der Völkerfreundschaft, Kontrolle, Politur des fünfeckigen Ordenssterns, des in der Mitte aufgebrachten, farbig emaillierten Staatswappens der Republik, Hochglanz und Feinentgratung der jeweils zwischen den Sternspitzen bogenförmig angeordneten, freistehenden beiden Eichenblätter mittels einer Politurahle, Blankputzen der auf der oberen Sternspitze aufgeprägten Friedenstaube.
Dienstags Griff in die Materialpalette links,
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