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Der Turm

Der Turm

Titel: Der Turm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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und strich ganze Absätze seiner keineswegs schlecht geschriebenen Prosa, deutete mit zwei, drei energischen Schnitten Charaktere um, machte aus einemmißliebigen Rentner einen willkommenen Polizisten, aus einer unerwünschten Anspielung auf das polnische Brudervolk einen Gruß an Bulgarien; er kannte die maßgeblichen Persönlichkeiten in der Hauptverwaltung Verlage, ihre Charaktereigenschaften, Vorlieben und kleinen Schwächen und kalkulierte sie in sein Schreiben ein. Was er nicht kannte, waren die oft binnen weniger Wochen, manchmal sogar Tage wechselnden Vorgaben der gerade verbindlichen Ideologie: die Wetterlage. Was galt, was galt nicht mehr und, wichtiger: Was würde gelten? Je nachdem, wie der Verlagsleiter oder er, Meno, die herrschende Stimmung interpretierten, schrieb Lührer um, neuerdings war er sogar dazu übergegangen, von vornherein mit Varianten zu arbeiten, die den gängigsten und wahrscheinlichsten Entwicklungen, wie man sie seit den sechziger oder siebziger Jahren schon oft erlebt hatte, gerecht werden konnten. Meno saß dann vor diesem Mann, der einmal, lange vor Bitterfeld 1959, einige außergewöhnliche Erzählungen geschrieben und zu den größten literarischen Talenten des Ostens gehört hatte, sagte nichts und starrte ins Leere, während Lührer von den Kompromissen sprach, die »Schiller und Genossen« hätten eingehen müssen, um ihre Werke überhaupt aufgeführt und gedruckt zu sehen. Schließlich vermied man das Thema Literatur und betrieb Eingeweidebeschau über diversen Parteitagsbeschlüssen, Kommentaren dazu und Rundbriefen der Sekretäre der verschiedenen Ebenen des Verbands der Geistestätigen. Vielleicht würde es beim Alten vom Berge anders sein, vielleicht würde er einen Tobsuchtsanfall erleben und die schlichte Weigerung, den Text zu verbiegen, bis er in irgendwelche ideologischen Konzepte paßte. Vielleicht. Meno war gespannt auf das Treffen, spürte so etwas wie einen sportlichen Kitzel. Er kannte den Alten vom Berge als Autor, sogar recht gut. Doch er kannte ihn noch nicht, was diese Seite der literarischen Arbeit betraf; er wußte nicht, wie er verhandelte. Einigermaßen beklommen und aufgeregt schloß Meno die Tasche, in der er die Papiere und Bücher verstaut hatte, und stand auf. Er verließ das Haus, als es halb sieben Uhr schlug.
    Wenn der Wind auffrischte und den Schnee in dichten Fahnen vor sich hertrieb, mußte Meno seinen Hut festhalten. Der Park war in feine kristallinische Schleier gehüllt; an den Ästen derBlutbuche neben dem Tausendaugenhaus hingen Eiszapfen, der mächtige Stamm wirkte wie aus schwarzem Glas in der Dämmerung. Vor dem Park, wo die Mondleite abbog, tastete sich ein Scheinwerferpaar näher; Meno sah, daß es zu einem Müllauto gehörte, das vorsichtig und leicht schlingernd auf der unter der Neuschneeschicht glatten Straße näher kam; die Männer sprangen vom Verdeck und treidelten polternd und fluchend die aufgekanteten, übervollen Mülltonnen zum Wagen, klinkten sie in die Haltebügel, worauf die Tonnen von der Hydraulik wie Bierhumpen aufwärtsgekippt und unter mehrmaligem Rütteln entleert wurden. Meno nahm den Planetenweg. Die Laternen schwankten und warfen ihr metallisch weißes Licht in schaukelnden Kegeln auf die Straße, auf der Splitt, Streusalz, Asche und Harsch zu einer grauen Masse verbacken waren. Professor Teerwagen saß am Steuer seines Wartburgs, drehte den Zündschlüssel, worauf das Auto immer wieder nur leiernde, gequälte Startgeräusche von sich gab, aber nicht ansprang, während Frau Teerwagen eifrig die Kühlerhaube freifegte und das Eis von den Fensterscheiben kratzte. In der Garage Dr. Kühnasts, Chemiker im VEB Arzneimittelwerk, brannte Licht; das Geräusch eines Föns war zu hören, wahrscheinlich taute er damit die zugefrorene Windschutzscheibe seines Škodas auf. Teerwagens Wartburg jaulte auf, das Standgas trieb den Motor in Höhen, die dem widerspenstigen Gefährt ein für allemal die Flausen austreiben sollten. Die Häuser links und rechts lagen finster und still. Auf der Querleite, die den Planetenweg mit der Turmstraße und Wolfsleite verband, hörte man die charakteristischen Wintermorgengeräusche: das Schaben der hölzernen Schneeschieber auf den Vorgartenwegen und der Straße, das in unregelmäßigen Abständen erfolgende Abklopfen der Schiebbretter, das Zusammenscharren der herabgefallenen Schneeklumpen. Herr Unthan, der blinde Bademeister im Haus Veronika, schleppte Kohlen. Meno schlug den

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