Der Turm
Mantelkragen auf und ging schneller. Es war empfindlich kalt geworden über Nacht, achtzehn Grad unter Null hatte das Thermometer vor Libussas Wintergarten angezeigt. Er bewegte die Hände in den Taschen, die Fingerspitzen brannten im Frost trotz der guten Lederhandschuhe, von denen Richard ein »Kontingent« über einen dankbarenPatienten bekommen und an Freunde wie Verwandtschaft weitergeschenkt hatte.
Meno dachte an die Geburtstagsfeier. All die vielen mehr oder minder lautstark redenden, selbstsicher auftretenden Ärzte und ihre Ehefrauen hatten ihn verunsichert. Diskussionen, in die die Hoffmanns, Rohdes und Tietzes gerieten, gewannen rasch an Fahrt und Temperatur und drohten bald in pulstreibende Sentenzen umzukippen … Ein merkwürdiger Furor war da am Werk, etwas Rechthaberisches, Unbedingtes brach sich in diesen Diskussionen Bahn und gab ihnen eine Schärfe, die auf Außenstehende befremdlich wirken mußte, manchmal allerdings, wenn sie einen Sinn dafür aufbrachten und souveräner zusahen, auch ziemlich komisch … Meno lächelte und stieß mit dem Fuß vergnügt einen Schneeball beiseite. Wie Richard und Niklas mit den Armen fuchtelten, vor Erregung Fanfarengesten in die Luft stießen und mit hochgeröteten Gesichtern schrien: Gilels sei ein besserer Pianist als Richter! – Nein! Richter sei der bessere! – Nein!! Wie kannst du das sagen – Meno lachte leise: an dieser Stelle pflegte konsequenterweise die Fuchtelhand sich zur Stirn zu wenden, um dort anzuklopfen, was meist zu weiterer Vertaubung der Meinungen führte –; Gilels! Ein-deu-tich! Komm doch mal mit, höre dir das doch mal an, das kannst du doch nicht im Ernst sagen … – Na, zei-k her! Jetzt wollen wir doch mal sehen, wie deine Meinung je-kli-cher Kruntt-lake ent-pährt!! Ich sache dir … Niklas, der sich »diese Bleiwüsten« nicht antat, doch erstaunlich gut darin Bescheid wußte; Richard …
Aber Meno, der in die Turmstraße gebogen war, hörte nicht mehr, was sich die Kontrahenten seines imaginären Dialogs zu sagen hatten. Erschrocken fuhr er zurück – eine Silhouette löste sich aus dem Schneetreiben und rannte in wilden Sätzen auf ihn los. Es war ein schwarzer, kalbsgroßer Hund, der seine Sprünge etwa einen Meter vor ihm abrupt abbrach, ungelenk näherschlitterte und im aufstiebenden Schnee, den Meno nicht vom Mantel zu klopfen wagte, zu jaulen begann. Er umklammerte seine Tasche und starrte dem Tier, um den Moment eines etwaigen Angriffs abschätzen zu können, in die Augen, die grün funkelten und ihm, als sie vom Licht einer Peitschenlaterne getroffen wurden, groß wie Untertassen erschienen. Suchend blickte ersich um. Im »Haus des Lehrers ›Anton Semjonowitsch Makarenko‹« an der Kreuzung zwischen Wolfsleite und Turmstraße erwachten einige Fenster; ein hoher Pfiff ertönte, brach in der scharfkalten Luft und wurde eine Quart tiefer fortgesetzt, eine Art von »He-jo«; die Tür des Lehrerinternats öffnete sich, und eine Schar mürrisch blickender, in braune NVA-Trainingsanzüge mit gelbroten Ärmelstreifen gekleidete Studenten trat heraus und wurde von einem Mann mit Bommelmütze auf die Straße und zum Frühsport kommandiert. Aber nicht von ihm war der Pfiff gekommen, dessen abfallende »He-jo«-Quart jetzt wieder ertönte, sondern von dem sich in ausgreifenden Schritten nähernden schwarzgekleideten Mann mit weichem Schlapphut, in dem Meno Arbogast erkannte. »Kastschej!« rief der Baron mit ungehalten klingender Stimme, das Pfeifchen, mit dem er die Quart gepfiffen hatte, noch in der Hand. Die andere hielt einen Stock mit silberner Greifenkrücke unter die Achsel geklemmt. »Kastschej – bei Fuß!« Der Hund legte die Ohren an, blinzelte, duckte sich weg. »Guten Morgen.« Der Baron lüftete den Hut einige Zentimeter über seinen hohen, ausgezehrt wirkenden Schädel, deutete ein Lächeln an, das vielleicht verbindlich oder besänftigend wirken sollte, aber eigentümlich schief, fast maskenhaft, im bleichen Gesicht stand. »Bei Fuß!« wiederholte er streng. Kastschej winselte, als ihm der Baron eine Kopfnuß versetzte. »Hat er Sie belästigt? Er ist noch sehr jung und unerfahren, und nahezu vollständig unerzogen. Entschuldigen Sie die Unannehmlichkeit.« Der Baron rückte an seiner Stahlbrille, setzte wieder das schiefe Lächeln auf, blickte prüfend zum Himmel. »Bei der Gelegenheit … Ich habe Ihre Studie«, er zögerte, wobei sich das Lächeln vertiefte, »– wie nennen Sie’s? Ein Roman ist es doch
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