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Der Turm

Der Turm

Titel: Der Turm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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einzulegen, wer für sie »der erste« war – nicht immer der lebensrobuste Holzhacker, der als Kraftkerl seinen Bohrer ansetzte, um die Eihaut zu durchdringen, manchmal schien sie ihn auch die Arbeit tun zu lassen, um den weichen Herumtreiber und Bohemien, den liebenswerten Süßmund, im letzten Augenblick hereinzuziehen und dem Vierschrot die Tür vor der Nase zuzuschlagen); da war das Geheimnis der Zusammenhänge, der Bedeutung, die sich der Sprache entzog.
    Manchmal schnorchelte eine Kaffeemaschine irgendwo in den Tiefen des Museums, manchmal knackte es in einem der mit Ölfarbe gestrichenen, frei an der Wand laufenden Heizungsrohre, manchmal machte irgendwo, aus den konzentrisch wachsenden, schmarotzerblumenartig entfalteten Feuchtigkeitsflecken an den blaßgelben, vom Craquelé der Jahrzehnte überwurzelten Decken gefallen, ein Wassertropfen »tock«. Bei Schneeschmelze und Regen, hatte Meno erfahren, machte das Wasser nicht nur »tock«; es schnürlte und rieselte durch das schadhafte Dach des Ständehauses mit munterem Gesang die Wände hinunter. Manchmal auch schlief er ein, denn in dem Verschlag, in dem er hockte, herrschten an sonnigen Mittagen 40°C. Und noch immer berührten ihn diese Lebewesen (auch wenn sie tot waren, Dinge waren es nicht) so seltsam wie als Kind: sinnend und zeitbewegt stand er vor dem Skelett der Stellerschen Seekuh, die ebenso ausgestorben war wie der Tasmanische Beutelwolf, der Carolina-Sittich, die Wandertaube, deren Flugschwärme Audubon so eindrücklich beschrieben und die einst den Himmel über dem Land amerikanischer Farmer verdunkelt hatten; wagte es nicht, einer der Blauraken das türkisfarbene Gefieder glattzustreichen, die Blaurake, die manche »-racke« schrieben und Mandelkrähe nannten, und die er als Junge in der Sächsischen Schweiz, auf den Expeditionen mit Kurt und Anne, noch gesehen hatte. Nun existierte sie hierzulande schon lange nicht mehr, wie die Beschriftungskarte auswies.
    Am stärksten aber, er wußte selbst nicht, warum, bewegte ihn das Schicksal eines Fischs, des sächsischen Störs, dessen lateinischen Namen, Acipenser sturio , er wie eine Beschwörungsformel vor sich hinmurmelte. Nachweislich bis 1912 die Elbe aufwärts bis Sachsen und Böhmen gestiegen, war der Stör längst aus denheimischen Gewässern verschwunden; das Museum für Tierkunde besaß das einzige erhaltene Exemplar der Art, und selbst im Vereinshaus der Elbeschiffer, aus dem Hoffmanns Barometer stammte, hätte man den Fisch für Anglerlatein gehalten, wäre dort nicht ein alter Privilegienbrief, das Recht zur Störfischerei beurkundend, über dem Tresen hängengeblieben. – So saß Meno in der Stille inmitten kleiner bunter, aufgenadelter Pharaonen, Überbleibseln längst vergessener Expeditionen in nahe und ferne Tropen, las mit Fernweh und Herzkehraus die Fundorte der Leuchtzikaden, Käfer (von denen das Museum eine bedeutende, in eigensinnigen Schlaf genagelte Abteilung Curculionidae, Rüsselkäfer, besaß), studierte die Kärtchen der in Schiebkästen aufgereihten Vögel, murmelte die Namen: Philippinen, Neuguinea, wußte, daß er dorthin nie würde gelangen können; versuchte die pinselhaft feinen und regelmäßigen Schriftzeichen, die von leichten und lichten Angelegenheiten zu sprechen schienen (vielleicht war es ein Tonabtastsystem, Musik?), andamanischer und neukaledonischer Muscheln zu entziffern, auf der Suche nach einer Sprache, die das sagte, was er im Angesicht dieser an das Ufer der Zeit gespülten Schätze empfand. So lebte er in diesen Tagen. So träumte er.

    Christian war wieder bei seiner Einheit in Grün. Er war jetzt über drei Jahre bei der Armee, im Herbst wäre er unter normalen Umständen entlassen worden und hätte in Leipzig Medizin zu studieren begonnen. Nun war er Unteroffizier, hatte Abitur und sonst nichts, befand sich in der Straf-Nachdienstzeit, die bis zum Frühjahr 1988 dauern würde, dann folgten noch anderthalb Jahre reguläre Dienstzeit: Entlassung im Herbst 1989. Von den alten Kameraden war außer Pfannkuchen keiner mehr da – Irrgang entlassen, ebenso Muska und Wanda; er sah fremde Gesichter; Schlückchen und die Berufsoffiziere waren geblieben. Schlückchen sagte zur Begrüßung: »Hoffmann und Kretzschmar – ein Vorkommnis, und Sie landen wieder dort. Verstanden?« Christian war jetzt der Stubenälteste, von den anderen mit einer Mischung aus Scheu und Respekt angesehen; er hatte das Gefühl, außer der Reihe zu laufen, ein lebender

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