Der Turm
Agrigent, Walahfrid Strabo, Hrabanus Maurus, Jakob Böhme, Novalis, der Droste, Fallmerayer, Carl Ritter bis hin zu Fabre und Benn war Meno zum verschwiegenen, seinen vor fremden Blicken inzwischen durch meterhohe Bücherschäfte geschützten Schreibtisch beanspruchenden fixum geworden. Das Leitgestirn dieser Bestrebungen hieß Goethe, wie so oft …
Den Urlaub im Sommer 1987 verbrachte Meno nicht im Haus seines Vaters in Schandau, sondern im Museum für Tierkunde, das, wie er zu seinem Erstaunen feststellte, kaum einem Dresdner bekannt war. Dort, in verstaubten Spinden mit Schmetterlingskästen aus den Nachlässen sächsischer Sammler, auf Mikroskopiertischen voller Petrischalen, Zeitschriftenstapel, traurig auf die Elbe blickender ausgestopfter Vögel, in der reichhaltigen, wenn auch unter Säurefraß und Feuchtigkeit leidenden Faunenbibliothek, fand Meno in Überfülle Material für seine Erkundungen. Seit seinen Studententagen hatte er das erste Glück des Forschers, noch untersuchungs- und fragenloses Anschauen der Natur, das sich von dem des Kindes nicht durch Staunen, sondern durch Betroffenheit unterscheidet, nicht mehr so stark empfunden wie in diesen fließenden, schon von Herbstklarheit durchsponnenen Augusttagen. Die Stadt hatte sich geleert, die Kinder hatten Sommerferien, die hitzemelancholisch gähnenden Kinosäle schienen sich selbst die Verzauberungen nicht zu glauben, die, gebannt im Staublicht griesgrämig knarrender Projektoren, über die Leinwände flackerten. Die Elbe war grau und träge wie ein badender Elefant. Das Spinnen-Manuskript und sein Universitätsausweis der Fachrichtung Zoologie Leipzig hatten Meno die Tür zu den Sammlungen geöffnet, und so saß er, ungestört von den Mitarbeitern, in der brütenden Stockstille eines Plätzchens hinter unaufgeräumten Regalen voller schweigender Forscherträume, die nachts, wenn er gegangen war, womöglich über ihn zu wispern beginnen würden – so dachte er manchmal –, denn unkatalogisierte Sammlungen, Kästen voller Schmetterlinge, von denen einer »nicht stimmt«, weil er falsch gesteckt oder klassifiziert wurde, sind wie Umgängerund lechzen nach dem Hals eines Wissenschaftlers, um erlöst zu werden … Hier saß Meno und studierte die Zelle. Cella , las er, Kammer, Raum; kleinste Bau- und isoliert noch lebensfähige Funktionseinheit von Organismen, Stoffwechselleistungen (Meno erinnerte sich an einen Spruch seines Lehrers Falkenhausen: Stoffwechsel ist eine Erkundung verschiedener Formen des Danks), Reizbeantwortung, beweglich und fortpflanzungsfähig; die meisten menschlichen und tierischen Zellen haben eine Größe von 20-30 μ; die menschliche Eizelle dagegen war eine Riesin mit ihren 0,2 mm Größe; dem bloßen Augen schon sichtbar. Wie eine Sonne ging diese Eizelle aus dem Gelbkörper auf, eine Sonne im Mondzyklus, gesteuert von einem komplizierten Wechselbogen von Hormonen (was »antreiben« hieß) und freigewischt von den Fimbrien der Tuben, eingesogen in den Eileiter, wanderte das Ovum in Richtung Uterus, von wo die Gegenzelle, die begeißelten Kampfschwimmer des Spermas, zu erwarten waren. Was meinten all diese Dinge, was hatten sie zu bedeuten, Organellen innerhalb der Membran, die die Zelle begrenzte und ihr als Nähr- und Kommunikationshaut diente? Da war das Endoplasmatische Retikulum, es sah aus wie eine Schicht hastig übereinandergestapelter Kartoffelpuffer, zwischen denen die Proteinbiosynthese stattfand, ein mehrstöckiger, tausendgleisiger, logistisch kaum zu überblickender Weltraumbahnhof aus An- und Ablieferungen, Aufbau, Zuschnitt, Reparatur und Abbau; da gab es den Golgi-Apparat, das sogenannte Binnennetz, das aus mehreren hintereinandergelagerten, konvex-konkav zusammengefalteten Doppelmembransäckchen bestand, die teils zu Kavernen und Vakuolen erweitert waren und dazu dienten, Sekrete zu umhüllen, sie gewissermaßen einzuschweißen in Vesikel, die aus der Zelle über besondere Kanäle geschleust wurden; da waren die Mitochondrien, die Kraftwerkchen im Protoplasma der Zelle, kompakten Räucherwürsten, manche auch Rugbybällen ähnlich; und da war das Geheimnis, wieso das Ei vom Samen wußte (denn so schien es zu sein, die Eizelle schien Lock- und Steuerstoffe auszusenden, ja, sogar sich die Samenzelle auszusuchen, von der sie befruchtet werden wollte; Meno hatte in der »Nature« gelesen, daß das Prinzip »der erste mahlt zuerst« offenbar nicht einschränkungslos gültig war; die Eizelleschien ein Wörtchen
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