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Der Turm

Der Turm

Titel: Der Turm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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Anachronismus zu sein, wie Meno das genannt hätte. Es gab keine Fragen nach Schwedtund Samarkand; er hatte unterschreiben müssen, zu schweigen. Das Reden wurde ihm fremd, er beschränkte sich, wenn es unumgänglich wurde, auf das nötigste. Er hatte unterschrieben. Er wollte nicht zurück. Das Brot schmeckte ihm. Die Kameraden waren nett, besonders der Goldschmied. Die Panzer waren gut. Die Sonne war schön.

    Im Winter auf 1988 kam die Zeit der Aufführungsabende zurück. Man fror in den Stuben, in den morschen Häusern, und wie konnte man sich besser wärmen als bei Grog und Tee und bei einem Theaterstück, eingerichtet von Erik Orré oder Rechtsanwalt Joffe, das im Hotel Schlemm, in den Tannhäuser-Lichtspielen oder im privaten Kreis geboten wurde? Christian bekam VKU, Verlängerten Kurzurlaub. Vor Urlaubsantritt zeigte er Schlückchen Fingernägel, Kragenbinde und das Nähpäckchen. Er kam auf dem Dresdner Hauptbahnhof an, als es schon dunkelte, stand in Ausgangsuniform, den geflickten Seesack geschultert, auf der Haltestelleninsel, wartete auf die 11 und fror. Der Wind spielte mit den Hängelampen über den Gleisen, zerraufte die Ecken schlechtgeklebter Plakate an den Litfaßsäulen. Vom Leninplatz fuhren Überlandbusse nach Waldbrunn, Zinnwald, ins Westerzgebirge; von der Anhöhe der Juri-Gagarin-Straße vor der Russischen Kirche und Bauten der Technischen Universität kam ihnen, ein Meereswurm mit zwei Chemoantennen, die 11 entgegen. Christian setzte sich auf den einzelnen Sitz rechts vor der Mitteltür, es war sein Lieblingsplatz in der Straßenbahn: man konnte gut beobachten, niemand konnte einen Platz daneben beanspruchen, es gab eine Sitzheizung, die meist funktionierte. Auf der Prager Straße blinkten die Lichter. Menschen hasteten in beiden Richtungen am Lenin-Denkmal vorbei. »Robotron«, verhieß ein Neonschriftzug auf dem Werks-Hochhaus an der Leningrader Straße. Rundkino, vorbei. »Trinkt Margonwasser«, empfahl eine Leuchtreklame am Dr.-Külz-Ring. Vorbei. Vorbei: das Ring-Café, Otto-Nuschke-Straße, Postplatz, auf dem Feierabendunruhe herrschte, Thälmannstraße mit dem Haus des Buches. Vom Schauspielhaus hing ein weißes Band, darauf in roten Buchstaben ANATOMIE TITUS FALL OF ROME. »Der Sozialismus siegt«, verkündete Leuchtschrift auf einem Hochhaus.Das Kronentor des Zwingers, der Flügel der Porzellansammlung trauerten im frechen Schein einiger Baulampen, die Reihe der Putten auf der Langgalerie war lückenhaft, auf dem Zwingergraben schwammen Schnapsflaschen und enttäuscht wirkende Schwäne. Rom: dachte Christian. Nein, Troja. Das hier ist Troja. Die Stadt kam ihm so kalt und fremd vor wie noch nie, die Heimfahrenden saßen mit gesenkten Köpfen, zermürbt von Sorgen und ihrer Tage Arbeit, in den Sitzschalen, die Haltestellenschilder aus Preßpappe klapperten, schlugen gegen die zerkratzten Plexiglas-Fensterscheiben; einsteigen, aussteigen, Spülicht der Lichter, des Menschendunsts, getaktet von der teilnahmslos die Haltestellen ansagenden Stimme des Fahrers.
    Christian schlief bei Meno im Tausendaugenhaus. Er hatte die Wohnung für sich allein, Meno war in Berlin zu Gremien- und Lektoratssitzungen, der neue Jahres- und der Perspektivplan des Hermes-Verlags waren in strittigen Punkten durchzukämpfen, eins der Bücher, die Meno für das Titelannahmeverfahren vorbereitet hatte, drohte gestrichen zu werden. Die Stube war ausgekühlt, der Aschkasten im Ofen nicht geleert; Christian machte Feuer, gab Chakamankabudibaba Futter, der ihm um die Beine schnurrte und recht altersschwach geworden war. Bei Libussa lief der Fernseher, Christian überlegte, ob er hochgehen sollte, aber er wollte allein sein. Bei Stahls weinte der Kleine, von der Treppe war jetzt die kräftige Stimme des Ingenieurs zu hören, der sich mit den Honichs stritt; die Stimme der Frau klang empört und schrill. Der Ingenieur hatte auf Christians Gruß nur kurz und, wie ihm schien, unwillig genickt: »Zum Duschen mußt du in die Querleite gehen, Meno hat dich bei Herrn Unthan angemeldet. Unser Badezimmer und Toilette haben einen Nutzungsplan«, das letzte Wort hatte er, Hand am Mund, wütend nach oben gerufen. Die Zehnminutenuhr schlug. Wie beruhigend und traumgängerisch war ihr Klang … Auf Menos Schreibtisch lagen im Lichtkreis der Lampe Zeitschriften (»Sinn und Form«, »Neue Deutsche Literatur«, »Reichenbachia«), die beiden Schelling-Bücher, Platons Dialoge »Timaios« und »Kritias« und, in der Mitte des

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