Der Turm
Katze. »Haben Sie nie das Gefühl, explodieren zu müssen? Die Sterne vom Himmel zu rütteln? Wollen Sie nie von allen Speisen zugleich kosten, tanzen bis zum Umfallen, saufen bis zum Ausknips, in der Spielbank Ihr Geld verjubeln, pleite sein, nach einer schrecklichen Stunde zurückkommen und alles zurückgewinnen und noch mehr? Wollten Sie nie einen Fluß dazu bringen, aufwärts zu fließen?«
»Mir genügt ein funktionierendes Bad«, erwiderte Meno abweisend.
»Fliegen können, frei sein, groß sein, voll unbezähmbarer, elementezwingender Kraft sein … wie die Revolution.«
Meno schwieg.
»Aber die Revolutionäre sind ängstlich«, sagte Judith bitter.
Immer dichter wurden die Kokons, immer tiefer die Jahre. Wen riefen die Uhren? Abends war das mutabor gesprochen, Stadt und Land stellten Puppen auf, die nach außen blickten, die Türmer aber waren längst die Treppen zu ihren Interessen hinabgestiegen … Ein stark besuchter Urania-Abend hatte einem Vortrag über Mesopotamien gegolten; der Dozent, eigens aus Berlin, vom Pergamon-Museum, angereist, hatte per Diaprojektor farbige Schatten auf eine Leinwand im abgedunkelten Vortragssaal von Haus Arbogast geworfen und nicht nur Witwe Fiebig zu begeistertem Staunen gebracht. Der Dozent signierte einige blaue quadratische Bücher, reiste ab, sein Thema blieb und zweigte aus, fachte, als wäre es eine Zündmasse, die Gespräche und stillen Studien in den abendlichen Stuben an. Die vom Dozenten hinterlassenen Bücher waren aber auch zu schön anzusehen: Ein Relief des Ischtartores war auf dem Umschlag abgebildet, weiße Löwen schritten über einem Fries mit Gänseblümchen auf zeitlosem, azurblauem Ziegelgrund; Witwe Fiebig meinte, es wehe einen schauerlich an, »diese Ä-wichkeiten seitdem, und was ist geblieben«. Plötzlich tauchten niegehörte Namen auf, bildeten weiße Wölkchen vor den Mündern der vor WachendorfsKonditorei auf Semmeln Wartenden; Assurbanipal, Assurnasirpal I und II, Hammurabi schwirrten hin und her, und jeder, der nicht »veraltet« sein wollte, mußte mit diesen Namen etwas anzufangen wissen. Im Haus Zu den Meerkatzen unterbrach man die Forschungen am Alten Dresden und wandte sich jenen Epochen voller mythischer, in Tierfelle gekleideter Männer mit langrechteckigen Kräuselbärten, Armspangen, Haarnetzen und Kampfkitteln zu, die Waden und Oberarme frei ließen und Witwe Fiebig mehr als einmal zum seufzenden Ausruf »Diese Muskeln, mein Gott, was diese Männer für Muskeln hatten«, brachten, worauf Herr Sandhaus erwiderte »Ja, meine Liebe, und damit haben sie ihren Feinden ungerührt die Köpfe abgeschnitten«. »Ja, aber welch ent-schiedene Männlichkeit, was für eine stolze, saft’sche Kultur, eine Kultur mit Muskeln «, erwiderte Witwe Fiebig, »und finden Sie nicht, daß diese Keilschrift was Zartes und Muskulöses zugleich hat? Wenn ich mir vorstelle, daß unsere Zeitungen so geschrieben wären, würde ich mich doch mehr vertiefen. Ich globe, ooch Schwindeleien wär’n in Keilschrift was andres, ganz was andres wär’n die, globe ich.«
Alle vier Exemplare des blauen Buchs, die in Bruno Korras Antiquariat »Papierboot« auf dem Lindwurmring ein friedliches Schlaf-Dasein geführt hatten, waren, obwohl vom listigen und die Zeitzeichen klar erkennenden Antiquar nach dem Vortrag sofort von EVP M 10,— auf EVP M 100,— verwertvollt, weggekauft worden und dienten nun den Bewohnern des Viertels, die nicht das Glück gehabt hatten, ein Exemplar zu ergattern, als Kopiervorlagen; einige der Sekretärinnen aus dem Handelskorrespondenzbüro des »Rats für Gegenseitige Wirtschaftshilfe« tippten die Bücher Wort für Wort in ihre Maschinen, in bis zu fünf Lagen Kohle- und Schreibpapier, das, wie auch die Farbbänder, die Papierhandlung Matthes aus schwarzen Kontingenten zur Verfügung stellte. Die an Grau, feinste Abstufungen von Alltagsgrau gewöhnten Augen der Türmer dürsteten nach Farben, sie berauschten sich an den seltsamen Reliefs, den Sonnen- und Sternzeichen, dem Meerblau der glasierten Ziegel der Prozessionsstraße, die den Namen »Möge der Feind sie nicht überschreiten« trug und vom »Marduk«-Tempel durch das Ischtartor, einem der acht Tore der Innenstadt von Babylon, zum»akitu«-Tempel führte. Mit Ehrfurcht blätterten sie die Buchseiten um, und wenn sie einen der Durchschläge, geheftet und gebunden in Arbogasts hauseigener Drucker- und Binderei, vor sich liegen hatten, die auf die Illustrationen hatten verzichten
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