Der Turm
müssen, waren sie nicht nachlässiger, im Gegenteil, dies hatte Menschenarbeit, Menschenzeit gekostet, und zwar von Menschen, die sie kannten und täglich sahen. Es gab Anrufe zu nächtlichen Stunden, im Viertel spann sich ein Netz zwischen Telefonhörern; man wies auf besondere Schönheiten hin, diskutierte die Lage der Hängenden Gärten in der Stadt Babylon; die Frauen fragten, welche Kleidung Semiramis wohl getragen haben mochte, ob es dem Kosmetiksalon »Nofretete« an der Bautzner Straße gelingen könne, die dezenten Geheimnisse babylonischer Schönheitsaufhöhung aufzudecken und nutzbar zu machen; die Männer überlegten, ob Herodots Angabe, daß die äußere Stadtmauer so breit gewesen sei, daß ein vierspänniger Wagen darauf habe wenden können, nicht ins Reich der Legenden gehöre. Die Lichter in den Stuben brannten, draußen fiel der saure, schwarzkörnige Schnee der mit schlechter Kohle durchheizten Winter, und Stirnen, glatte, faltige, schwärmerische und nüchterne, beugten sich über die Farben und Formen jener langversunkenen, unter Sand und Sintflut verschütteten Zeit.
Es verging so schnell, wie es gekommen war. Die imposanten Zickurrats zerbröckelten, die Wagenlenker auf Blumensternrädern, die Sonnenkönige in Gold und Lapislazuli verloschen, kaum war eine Fahrt nach Berlin, zur Museumsinsel, organisiert; Herr Sandhaus, der sich gekümmert hatte, stand ratlos auf dem Bahnsteig, aber außer Meno kam nur noch Herr Adeling. »Ist nun nichts mehr mit Assyrien, Herr Sandhaus, nichwahr? Aber wissen Sie, bei mir hat’s erst angefangen, hier in unserm Ninive.«
Die babylonischen Phantasien verblaßten, nachdem man das Völkerkundemuseum im Japanischen Palais besucht hatte. Der Wissenshunger der Türmer verlangte nach Neuem … Meno sah mit stiller Amüsiertheit, wie die Moden wechselten. Nach Mesopotamien entdeckte man die Phönizier und Karthago; der Schiffsarzt kam zu Ehren, weil er Risse von Schiffen dieser Seefahrernation mit gehauchtester Feder auf Polylux-Folien zuübertragen wußte, filigrane Kabinettstückchen der Schiffszeichenkunst, die Arbogast von seinem Ratsherrenstuhl im Halbdämmer nickend und schmunzelnd mit Beifall bedachte. Ja, segeln wie die Phönizier! Das müßte man können! Das weite Mittelmeer befahren von Zypern bis Gibraltar und hinaus, wovor die Alten sich fürchteten. Modellschiffe aus Kienspan und Balsa wurden gebaut; Papierwaren-Matthes wußte gar nicht, wie ihm wurde und woher er all die verlangten Materialien besorgen sollte. Für das Balsa konnte man auch Kork nehmen, aus Kork bestanden Angelruten-Griffe – die Messer geschärft, die Rasierklingen gezückt! Gewisse Fernsehsendungen erfreuten sich nun allgemeiner Beliebtheit; Meno erkannte es am synchronen Schnittwechsel in den Fenstern, wenn er nach Hause kam … Filme über Seehelden und Entdecker, wagemutige Kaperfahrer und Abenteurer; Sendungen wie »Sie & Er & 1000 Fragen«, »Von Pädagogen – für Pädagogen« und, beliebt bei den Schneiderinnen der »Harmonie«, die sich bei Barbara zum »Frauenkränzchen« trafen, der Selbstnäh-Ratgeber »Vom Scheitel bis zur Sohle«. Rechtsanwalt Joffe lud zu einem »Sandokan«-Abend, an dem die Glutaugen des »Tigers von Malaysia« nicht nur Witwe Fiebigs Herz entflammten, hielt im Hotel Schlemm einen Videovortrag über »Paul und Virginie«, das auf Mauritius spielte, ein seichtes, koloniales Liebesgeplätscher, das die Männer nicht ohne eine Flasche Bier und Seitenblicke auf ihre Frauen und die Uhren ansahen; nachher unterhielt man sich über Joffes Privilegien.
Meno trieb seine eigenen Forschungen. Die Zelle beschäftigte ihn, kleinste Einheit des Lebendigen, ein hochkomplexes organisches Maschinenwerk, das Arbogast ihm in mannshohen, den Künsten Herrn Ritschels zu dankenden, Modellblöcken zur Verfügung stellte. Man konnte sogar einige chemische Reaktionen simulieren … Sie wollte er bedichten, denn davon erhoffte er sich eine Rettung der romantischen Poesie, die in abgelebten Reimen einerseits und Naturschwärmerei (das »Schöne, Gute, ›das‹ Romantische«) andererseits erstarrt zu sein schien … Es hatte beeindruckende Veröffentlichungen bei Hermes gegeben, einen bewundernswerten, von Eschschloraque giftig angegriffenen Essay des Alten vom Berge über Trakl … DieVerschwisterung von Wissenschaft und Dichtkunst (eine alte, ziemlich humanistische Idee), eine Traditionslinie, schmal und oft fast verschüttet, bezeichnet mit den Namen Empedokles von
Weitere Kostenlose Bücher