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Der Turm

Der Turm

Titel: Der Turm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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Literatur-Schreibtischflügels aufgeschlagen, Judith Schevolas »Die Tiefe dieser Jahre«. Christian klappte es vorsichtig zu, nachdem er die handschriftliche Widmung an JochenLondoner auf dem Titelblatt gelesen hatte. Vielleicht, dachte Christian, sitzt der Schiffsarzt im Wintergarten, blättert in Segelschiffsbüchern und schmaucht ein Pfeifchen Kopenhagener Vanilletabak. Christian stieg durch die Tapetentür hoch, fand aber nicht Alois Lange, sondern die Kaminski-Zwillinge rauchend vor einem Farbfernseher. »Ach, der junge Hoffmann. Der Wintergarten ist nicht mehr frei zugänglich. Er gehört jetzt zu unserer Wohnung. Aber wenn Sie Lust auf eine Videokassette James Bond haben, so sei’s für diesmal«, sagte Timo oder René und wies einladend auf den Stuhl, von dem er lässig seine Beine nahm. Christian stieg grußlos die Treppe wieder hinunter. Es klingelte.
    »’n Abend«, brummten zwei Möbelpacker vor der Tür. Ein dritter wartete in der Fahrerkabine eines Lastwagens. »Wir sollen die Zehnminutenuhr von Herrn Rohde abholen.«
    Christian schwieg überrascht.
    »Das geht in Ordnung. Es ist für das Theaterstück. Ist ja morgen Aufführung. Herr Rohde hat uns gesagt, er hätte Sie informiert.«
    »Augenblick, bitte.« Christian ging zu Menos Schreibtisch, fand ein eingespanntes Blatt in der Maschine. Ein paar Notizen und Anmerkungen, wie sie Meno für Gäste immer schrieb, wenn er nicht da war. Im Postscriptum stand ein Hinweis auf die Möbelpacker. Merkwürdig nur, daß Meno, entgegen seiner Gewohnheit, keine Telefonnummer hinterlassen hatte, unter der er zu erreichen war. Die Männer warteten.
    »Haben Sie irgendwelche Papiere?«
    Der Fahrer reichte eine Mappe heraus. »Junger Mann, nun machen Sie mal keine Schwierigkeiten. Wir haben noch mehr Transporte. Es ist mit Ihrem Onkel abgesprochen.«
    »Ich kann mir einfach nicht vorstellen, daß mein Onkel in seiner Abwesenheit wildfremden Leuten seine Standuhr überläßt«, sagte Christian. »Ich werde ihn mal anrufen und nachfragen.« Er ging ins Haus und wartete eine Weile. Als er herauskam, waren die Männer und der LKW verschwunden.
    Im Haus schwoll Lärm auf und ab, Schritte polterten, in Langes Küche pfiff ein Teekessel, irgendwo wurden Möbel gerückt, das Kratzen und Schaben wanderte in den Wänden auf und ab. Herr Honich schien mit einem Schwerhörigen zu telefonieren,seine kräftige Stimme bellte immer wieder »Was? Wie?« in die Muschel. Christian beschloß, noch ein wenig spazierenzugehen. Feiner Regen hatte eingesetzt, ließ das Schwarz der Blutbuche glänzen, tuschelte in den Dachrinnen. Die Tränenkiefern dufteten würzig. Aus den Parktiefen scholl das »Kiwitt« eines Käuzchens herüber. Christian schlug den Weg zur Karavelle ein, ging über die Wolfsleite, querte die Turmstraße, wo knarrend und quietschend, begleitet vom gleichmäßigen Silbenreden einiger Angestellter der Arbogastschen Institute, ein Zug krokodilgroßer, fluoreszierender Feuersalamander die Straße passierte.
    »Na, Herr Hoffmann« – Christian fuhr erschrocken herum, erkannte den als Wetterglashändler verkleideten Rechtsanwalt Sperber. »Haben Sie Urlaub bekommen? Sie sehen«, sagte Sperber, indem er den auf Holzrädern vorüberknirschenden Salamandern zunickte und einem der Begleiter ein »Guten Abend, Herr Ritschel!« zurief, »Joffes Theaterstück hat schon vor Beginn mächtig eingeschlagen. Wir spielen den ›Goldenen Topf‹ – mit ein paar hübschen Lizenzen. Ihr Cousin gibt den Anselmus und Ihre Cousine Muriel die Schlange Serpentina. – Ich habe sie übrigens schon wieder lachen sehen. Aber nun entschuldigen Sie mich, ich muß zur Probe. – Ah, der Herr Archivarius Lindhorst!« grüßte Sperber einen Mann in langem schwarzem Mantel, »Wie war der Flug bei diesem Wetter?«
    Arbogast breitete jovial die Arme, an denen der Mantelstoff fledermausartig gerippt war. »Herr Marroquin hat tief in seinen Fundus gegriffen, und was nicht vorhanden war, hat das Institut bei Herrn Lukas und in der ›Harmonie‹ geordert. Die Dekorationen stammen aus der Tischlerei Rabe. Gelungen, nicht wahr? Andernorts nennt man das Sponsoring. Wie ich mich auf dieses Spielchen freue!« Arbogast schwang vergnügt seinen Stock. »Schönen Gruß an Ihren Vater!« rief er Christian zu, bevor er mit Sperber, dessen Wettergläser-Klingklang vom Regen rasch verschluckt wurde, in der Dämmerung der Turmstraße verschwand; die gelben Flecken der Feuersalamander leuchteten nach.
    Christian kehrte

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