Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Turm

Der Turm

Titel: Der Turm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
Vom Netzwerk:
… Anne war noch bei Kurt in Schandau, natürlich fuhr kein Zug mehr; sie hatten vereinbart, daß Richard beim Pfarrer von St. Johannis anrufen solle (Kurt besaß noch immer keinen Telefonanschluß); aber die Leitung war tot gewesen – diesmal also auch das. Jetzt saß Anne in Schandau fest, und er stiefelte neben Niklas durch Eis und Schnee, um Patienten zu versorgen, die es vermutlich schon gab. Sie gingen zum Lazarett, dort hatten Barsano und sein Krisenstab einen Stützpunkt eingerichtet, dorthin wurde aus den Neubaugebieten evakuiert: Prohlis, Reick, Gorbitz, Johannstadt.
    »Ist dir schon aufgefallen, daß der Tastsinn stumpfer zu werden scheint, wenn man schlechter hört?« Niklas, fand Richard, hatte Sinn für den Ernst der Lage. »Ezzo muß in der Musikhochschule hängengeblieben sein, Reglinde wollte bei Freunden in der Neustadt feiern, Gudrun hatte Vorstellung – Meno! He, Meno! Hast du Gudrun gesehen?«
    Meno, der aus einem Lastwagen ausstieg, schüttelte den Kopf. »In unserem Bus war sie nicht. – Ihr geht ins Lazarett?«
    »Herr Rohde!« rief Barsano vom Eingangstor mit dem roten Stern und winkte. »Helfen Sie uns – Sie sprechen Russisch. Habe genug mit dem Koordinieren zu tun. Können Sie als Dolmetscher gebrauchen! Herr Hoffmann, Herr Tietze, bitte melden Sie sich beim diensthabenden Arzt.«
    Ein Verbotener Ort, ein Ort aus Staub, dachte Meno, trat durch das Tor, das ein verwirrter Wachtposten zu beschützen versuchte. NATURA SANAT, grüßte das ehemalige Damenbad, davor, lächelnd wie ein Kirgise, der silberfarbene Leninkopf. Die Brückengänge waren verfallen, Fensterscheiben zersplittert, Jugendstil-Ornamente verwelkt, Stürme und Regen hatten an den Dächern genagt. Von den Traufen, aus denen viele der überschießenden Sparren herausgebrochen waren wie Zinken aus einem der feinen, handgesägten, mit Wünschen und Versprechungen gesalbten Kämme der Schönheitsfriseure, wucherten Eiszapfen, schwer und schmutzig, als wollten sie eine Spieldosenmusik zum Schweigen bringen, deren Grazie die Risse in den Gebäuden vergrößert, das Förderbandbrummen vom Heizhaus am Berghang verstärkt haben würde. In den Wandelgängen vorden ehemaligen Kurpatientenzimmern standen die alten Zuber, vollgestopft mit Holzscheiten und Zeitungspapier. Spinnweben hingen wie Tatarenhelmzierden von den Schnitzwerken, schwarz, glitzernd von Frost. Aber waren es Spinnweben? Meno glaubte sich getäuscht zu haben. Solche Formen hatten keine ihm bekannten Spinnweben, selbst in Jahrzehnten und zu vielen Schichten gearbeitete, in Augenblicken zerstörte nicht. Es waren Flechten, moosige Gewächse, langhängend, eingesogen ins Armfleisch der Vorpostenbäume; filzige, mißfarbene Bärte an den Dächern, die der Wald mit einer langsamen Umarmung in sein Reich zurückzuziehen schien. Barsano winkte Meno zu seinem Stellvertreter, Karlheinz Schubert, der zum Heinrichshof voranging, einer Fachwerkvilla, die dem früheren Besitzer des Sanatoriums gehört hatte und in der sich jetzt die Lazarettkommandantur befand. Herrenmassage und Küche standen leer, mit Brettern vernagelt. Verstopfte Dachrinnen, fehlende Dachziegel, im Gebälk der einst verglast gewesenen Verbindungsgänge wölkte Schwamm, an den Decken kroch der Schwarze Schimmel. Schubert sagte nichts, stakte mit merkwürdig raumgreifenden Schritten, als fürchtete er, bei kurzen fehlzutreten, an Laubhaufen und hereingewehtem Schnee vorbei, den traurigen, zugeklopften, mit kyrillischen Buchstaben und penibel gemalten Ziffern gekennzeichneten Türen, grüßte stumm, aus glasigen Augen, die vereinzelt begegnenden Kranken, die den beiden Männern ängstliche Blicke zuwarfen. Der muffige Geruch der Flure, die blaugrüne Ölfarbe, mit der die Wände gegen die Feuchtigkeit und ihre schädlichen Einbürgerungen überkleistert waren; die schamlos aus den Böden der Flurkreuzungen geklaubten Mosaiken, nur noch einzelne blaßfarbige Steine ließen Badeszenen römisch-antiker Vergangenheit ahnen; dagegen die über zerschlagenen Fenstern in den Windwechseln baumelnden, respektvoll unangetastet gebliebenen, staubbewatteten Kronleuchter; Wandzeitungen mit der aktuellen »Prawda« und der Satirezeitschrift »Krokodil« – gegenwärtige Eindrücke, zugleich Erinnerungen, die in Meno vieles wachriefen. Karlheinz Schubert bat ihn mit stockender Stimme zu warten; nach wenigen Augenblicken kam er wieder, kopfschüttelnd: Die Toilettenbecken seien alle herausgerissen, verpackt und

Weitere Kostenlose Bücher