Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Turm

Der Turm

Titel: Der Turm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
Vom Netzwerk:
Stimmenäther, im Kontrast dazu die verbrannte Schmucklosigkeit der Kirche, der Rauhputz ihrer Wände, über den Kruzianerköpfen im Kerzenglorienschein das abgemessene Trauer beschwörende, klippenründende Dirigat des Kreuzkantors, dem die Chor-Verklärungsschleier um die Stützklänge der Jehmlich-Orgel kinderunschuldig folgten.
    Rosenträger betrat die Kanzel. Durch die Menschen, die der Musik ergriffen gelauscht hatten, ging eine spürbare Bewegung, Anspannung, die Oberkörper schoben sich nach vorn (wie die ahnungsvolle, schwellende Wendung einer fleischfressenden Pflanze hin zu einem potentiellen Opfer, das die äußeren Signalkreise unwissentlich betreten hat), Hälse reckten sich, Hände tasteten nervös über Gesangbücher, fingerten Hutkrempen ab wie Gebetskränze; der Atemrauch vor den Mündern wurde unsichtbar und strich, als die klar akzentuierende Stimme des Superintendenten tatsächlich zu hören war, wie ein Erleichterungshauch durch das Flackerdämmer des Kirchenschiffs. Er sprach über den 13. Februar. Meno spürte, daß es nicht das war, was die Menschen erhofft hatten – und was, vielleicht, Madame Eglantine gemeint hatte mit dem zögerlich ausgesprochenen Wort »Veranstaltungen«; Erinnerungen an den Angriff, Krieg, Verheerung und Vergangenheit hatten sie erwartet, gehofft aber auf Worte zur Gegenwart. Als sie kamen, lief es wie ein Blitzen durch die Emporen, so rasch hoben die Lauschenden ihre Gesichter zu Rosenträger zurück, den Barsano, wie sich Meno erinnerte, als einen »Hauptfeind« bezeichnet hatte. Dieser hagere Mann mit dem strähnigen, gleichgültig gescheitelten Haar sprach besonnen Dinge aus, die man sonst nur hinter vorgehaltener Hand zu flüstern gewagt oder aber ganz für sich behalten hätte. Immer wieder konnte Meno körperlich wahrnehmen, wie die Menschen erstarrten, wenn Rosenträger von »Verirrungen«sprach, von der Wahrheit, die allein und unteilbar nur in Gott und nicht bei Parteien sein könne; wenn er mit einem Spiegel verglich, der nicht die schönen Wünsche, sondern manch unliebsame Wirklichkeit zeigte (Meno war sich aus eingefleischter Gewohnheit nicht sicher, ob das Bild stimmte). Der Mann, entschied er nach einiger Beobachtung, war weder ein Hasardeur, den die Welle einer vermuteten Dankbarkeit über den Strand lebensnötiger Hemmungen trug, noch ein Wichtigtuer, dem in priesterlicher Verkleidung, wenn er in die Stellvertreterkanzel stieg, eine kleine eitle Sonne aufging. Einfach sprach er einfache Wahrheiten aus. Daß er es hier tat, in der Kreuzkirche, vor einigen tausend Zuhörern, war Bedürfnis, und es war keineswegs die Selbstverständigung einer »isolierten Clique«, wie Barsano die Besucher der Kreuzkirchenandachten titulierte. Hier durchbrach jemand die Grenze des Schweigens, des Wegsehens, der Angst; Rosenträger hatte Angst, Meno las es aus der Gestik des Geistlichen, die fahriger war, als es seiner Autorität in den Augen kühl urteilender Registratoren auf Dauer guttun mochte – die Menschen aber, die Meno beobachten konnte, sogen seine Worte in begieriger Stille auf. Vielleicht war es auch gerade dies, daß Rosenträger nicht wie ein Kader auftrat, klobig und befehlshaberisch aus den Wolken der Geschichtsgesetzmäßigkeit zurechtweisend; Rosenträger rückte an der Brille, sprach frei, nach Worten tastend, in gerader Haltung, man hörte keine Phrasen; er hatte Angst – und sprach trotzdem.

    Richard hatte Robert gebeten, vor der Kurve zum Steinbruch zu halten. Die letzten Schritte wollte er zu Fuß gehen, zwar mit Annes Sarkasmus im Rücken, dafür aber, wenn er im Hispano-Suiza auffuhr, im Auskostungs-Pomp eines langen Auge-in-Auge, und auch Robert wollte er zum Staunen bringen, seinen abgebrühten Sohn (Überwältigung tat gut). Wie klar die Luft war – Frühlingsskizzen; ein Vogel schüttelte sich von einem Zweig empor, eine Dusche aus erschrockenen Wassertropfen ging nieder.
    Der Künstler Jerzy hing an einer Talje, winkte, am Ohr des Karl-Marx-Riesen beschäftigt, Richard zu. Vom anderen Ende des Steinbruchs hallten wütende Schlegelhiebe herüber: Dietzschformte sein »work in progress«, wie er sagte, »Der Daumen«, winkte aber nicht, als Richard grüßte. Im Schuppen herrschte die schöne Unordnung von Kinderspielen, Stahl hatte einmal, nachdenklich und selbstironisch, bemerkt: von Arbeit, die begeistert und um ihrer selbst willen getan wird, weil als Familienväter getarnte Jungen sie tun; Helligkeit faserte durch die Bretterritzen.

Weitere Kostenlose Bücher