Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Turm

Der Turm

Titel: Der Turm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
Vom Netzwerk:
groß.«
    »Manfred, setz dich, iß deinen Bienenstich«, bat Clarens.
    »Wir müssen Risiken eingehen«, sagte ein Mann mit kahlrasiertem Schädel. Richard kannte ihn, ein Kollege Gudruns am Schauspielhaus. Sein Ledermantel reichte bis zu den Knöcheln und war stark abgewetzt. Er verschränkte die Arme (gediegenes Knarren des Leders), lutschte das kupierte Mundstück einer Zigarre an. Zwei junge Frauen im Schneidersitz, beide mit Palästinenserhalstüchern, meldeten sich. »Ich bin die Julia«, sagte die eine. – »Ich bin die Johanna«, sagte die andere. »Wir finden das gut, was die Annegret eben vorgeschlagen hat. Und der Robert in Grünheide hätte bestimmt auch –«
    »Und hätte der Robert in Grünheide auch gewußt, wo das Sit-in stattfinden soll?« fuhr Weniger dazwischen. Ob man ernsthaft glaube, mit solchen Mitteln Reformen erzwingen zu können? »Durchaus«, erwiderte bedächtig ein Mann in Anzug und Krawatte, »so generell schon.«
    Sein Nachbar, der eine Jeansjacke mit dem Aufnäher »Schwerter zu Pflugscharen« trug, plädierte dafür, Bonhoeffer zu lesen.
    »Nein, Bahro«, verlangte jemand von einem Kanapee unter einem Acryl-Stalin mit Veilchenauge.
    Richard sah, daß die Anglerin winkte. »Achtung!« rief es von der Tür. Polizisten drängten ins Atelier. Das Interesse an Kunst hatte rechtzeitig zugenommen.
    »Ausweiskontrolle! Keiner verläßt den Raum.«

70.
Walpurgisnacht
    »Da bist du ja.« Arbogast lehnte am Fenster, betrachtete den Schmetterling auf der Zeigefingerspitze. Er reichte ihn Herrn Ritschel, der ihn in ein Netz schob und sich behutsam entfernte. »Es ist keine Kleinigkeit, um die Sie mich da bitten, Herr Hoffmann.«
    »Sie haben doch schon einmal drucken lassen.«
    »Das blaue Buch unseres Assyriologen, jaja. Das war Unterhaltung. Bei Ihrem Schriftstück aber handelt es sich um Politik. Ihrer Bitte nachzukommen, hieße Vorwände zu liefern.«
    »Sie wollen uns also nicht helfen.«
    »Wer ist ›uns‹?«
    »Eine Reihe von Menschen, denen die Verhältnisse mehr als nur zu denken geben. Die etwas zu tun entschlossen sind.«
    »– entschlossen sind, soso. Entschlossenheit hat etwas Geradliniges, das sich mit den Prinzipien meiner Institute gut in Übereinstimmung bringen ließe. Warum gehen Sie nicht zu einer Zeitung, Herr Hoffmann? Der beste Ort für Vervielfältigungen. Es gab viele interessante Berichte in jüngster Zeit, und nicht alle Redakteure sind verbohrt.«
    »Herr von Arbogast – keine Zeitung hierzulande wird einen solchen Aufruf drucken. Das wissen Sie genausogut wie ich.«
    »Daß wir uns darüber unterhalten müssen … Wie Sie wollen. Haben Sie meinen Brief bekommen? Ich hatte schon mehrmals vor, Sie anzurufen. – In der Akademie hat man wohl andere Sorgen als mein Projekt.«
    »Tut mir leid.«
    »Übrigens teile ich viele Ansichten Ihrer Schrift, Herr Hoffmann. Ich werde mir die Sache überlegen.«
    »Das Honorar –«
    Arbogast lächelte. »Ach, wissen Sie, Herr Hoffmann, das wäre nicht weiter kitzlig. Ein paar Witze … Sie wissen vielleicht, daß ich sammle? Und eventuell noch den Bier/Braun/Kümmell, den Sie besitzen? Ich erfuhr es von Ihrem Schwager aus dem Italienischen Haus. – Überlegen wir beide. Ich sehe Sie nachher im Sibyllenhof? – Schade.« Arbogast stand auf, zog die rote Westestraff, als im liegenden Ziffernblatt einer Schreibtischuhr, hinter dem Wald der scharf gespitzten Bleistifte, eine Tänzerin, ein Elfenbein-Däumelinchen, sich zum Walzenklang zu drehen begann.

    Kostümfest! Das Vestibül des Restaurants »Sibyllenhof« war mit Girlanden, an denen Luftschlangen baumelten, und Lampions dekoriert, über die Fensternischen hatte man als Stimmungsmacher bunte, flackernde Glühbirnen gehängt, ein quer unter die Decke gespanntes Transparent verkündete »Tanz in den Mai«. Meno wies seine Einladung vor, nahm seinen alten Zoologenkittel und das Mikroskop aus dem Rucksack, ging zur Garderobe, wo eine Rotkäppchen-Garderobiere seinen Hut zwischen die Borsalinos der beiden Eschschloraques hängte. Karlfriede Sinner-Priest stand, gekleidet als Hofdame des sächsischen Barock, neben Albert Salomon (August der Starke) vor den Telefonzellen des Sibyllenhofs, die mit einem Schlüssel-Vierkant zu öffnen waren, den man nach einem Eintrag ins Haustelefonbuch an der Rezeption erhielt, und schien angeregt mit einigen Autoren zu plaudern – Meno erkannte Lührer (peinlicherweise ebenfalls als August der Starke verkleidet) und Altberg (als Bergmann, der

Weitere Kostenlose Bücher