Der Turm
stecken schienen. Er brach ein Gefäß heraus, ein handelsübliches Marmeladenglas mit Plastdeckel, untersuchte es im geringen Licht, schnitt mit dem Taschenmesser einen Kegel aus dem wachsbleichen Inhalt, roch daran. »Ich glaube nicht, daß man Gift einwecken würde«, flüsterte er, hielt den Kegel Christian hin. »Doch manches Ding vergiftet Zeit.«
69.
Wetterleuchten
»Als ich dich das erste Mal gesehen habe, hätte ich nicht geglaubt, daß du mit Versen aufwarten würdest. – Das ist Honig. Gefrorener Honig.«
»Kunsthonig?« zweifelte Pfannkuchen kostend, brach weitere Gläser aus dem Schaum, steckte sie in den mitgebrachten Beutel. »Die Gläser scheinen dicht geblieben zu sein. Laß uns abhauen. Hier ist’s mir zu still. Wundert mich, daß sie keinen Hund haben. Wenn ich hier wohnen müßte, hätte ich einen.«
Der Hund sprang Christian schweigend an, drückte ihn gegen die Wand neben der Kellertür, blieb hechelnd und lefzenschlappend, die Vorderpfoten auf Christians Schultern, zweibeinig stehen. Eine Sensenklinge legte sich an Pfannkuchens Hals, zog den erschrockenen Schmied langsam die Treppe hinauf. Schanett lockte mit dem Zeigefinger ins Haus; die Sense hing sie an einen Pflock über der Tür. Das Haus war kalt, die Fenster schief, mit Eisfarnen überkrustet. Schanett ging mit einer Laterne voraus und überließ es dem leise grollenden Hund, die beiden Ertappten vorwärtszustoßen. Zumal weitere Hunde auftauchten, die Schanett aber zurückscheuchte. Die Berührungsqualität der weichen Schnauze, die Christian an seinem Gesäß spürte, glich der eines Gummiknüppels – ein Stock-Tuch-Zeichen, abwartend und individuell; Christian graute vor dem Gedanken, daß Schanett sie anzeigen und damit zurückbringen konnte nach dort ; dann, so beschloß er, würde er es kurz zu machen versuchen.Wahrscheinlich hatte sie hier kein Telefon, und Strom gab es ja auch nicht … Es schien nach unten zu gehen, kellerige Luft wehte an. Schanetts Laternen-Lichtkreis erreichte die Decke nicht mehr, hallige Schwärze, aus der Fleisch herabhing in finger- bis mannsgroßen Stücken, alle überfrostet, manche in Eisglocken, die reglos auf die Berührung des Bodens zu warten schienen; ihre Last und der nachgiebige Grund des Tagebaus ließen das Haus wohl allmählich absacken. Was die jetzt enorme, von außen kaum zu vermutende Raumhöhe nicht erklärte – vielleicht war das Haus quer durchgerissen, die unteren Etagen sanken, während das Dach oberirdisch blieb. Fleisch; Pfannkuchen zog den Kopf ein. Dunkelrotes Muskelfleisch, in weißes Fett gebettet, sehnig durchwachsen; vereiste Nieren; Schweineköpfe, reifglitzernd, mit eigentümlich ironischem Gesichtsausdruck bei offenen Augen; weißklumpige Herzen, dicht beieinander.
»Kommen Sie.« Der Korrektor nickte Meno zu. »Der gute redliche Redlich«, murmelte Klemm, »trägt getreu das Joch, bereitet die Messe vor wie in jedem Jahr, und dabei … oh, Fräulein Wrobel, ich dachte nicht, daß Sie noch da sind; die Beethoven-Quartette schwiegen.«
»Sie … gehen zu den Veranstaltungen?«
Sie traten instinktiv aus dem Lichtkreis der Straßenlaterne, und Oskar Klemm, Kavalier alter Schule, reichte Madame Eglantine zur Antwort den Arm – den sie nahm, obwohl sie sich, wie Meno wußte, über das »Fräulein« ärgerte. Ihr Gesicht war blaß, die Augen von Zweifeln und Angst verdunkelt; ihr Mantel aber, aus großväterlichem Loden zurechtgeschneidert, trug Filzflicken in Form verschiedenfarbiger Fußsohlen, deren Zehen (zu denen Oskar Klemm auf gut sächsisch »Morabbeln« sagte) sich vorwitzig spreizten. »Darf ich Ihnen die Schuhe zubinden? Bädänken Sie die Folgen eines Stolperns, meine Teure.«
»Rosenträger wird sprechen«, sagte Meno vorsichtig.
»Es ist gut, auch einmal etwas anderes zu hören. Schiffner hat es verboten, aber, liebe Kollegen«, Klemm blieb stehen und hob sein Gesicht, »ich für mein Teil habe beschlossen, endlich mit dem Mut zu beginnen.«
Kreuzkirche, Mauersberger-Programm. Die Menschen standenso dicht, daß eine ältere Dame in Menos Nähe, die einen Schwächeanfall erlitt, nicht stürzte. »Wie liegt die Stadt so wüst.« Aber (und das war charakteristisch, dachte Meno), das Schreckliche mußte schön gesagt werden, in Wohlklang – die durchsichtige Zunge des Kreuzchores begann die Ohren zu betören – und Harmonie gelöst, von Ebenmaß und Überlieferung gerahmt werden; das nannte man dann traditionell, obwohl es etwas anderes sein mochte.
Weitere Kostenlose Bücher