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Der Turm

Der Turm

Titel: Der Turm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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bestehe, nur –
    Mitarbeiter der Grauleite näherten sich. »Auseinander!« bellte ein Offizier. Aber die Menschen blieben stehen. Zahnärztin Knabe schüttelte langsam den Kopf. Der Offizier stutzte, schien verunsichert. Andere Spaziergänger sahen den Auflauf, und anstatt rasch weiterzugehen, mit Blicken, die nichts sahen, mit eingezogenen Köpfen, wie es sich bei Konfrontationen mit der Macht bisher abgespielt hatte, kamen sie heran, immer mehr, gefolgt von Zuschauern aus den Gärten entlang der Ulmenleite, und stellten sich neben Pfarrer Magenstock.
    Der Offizier schwieg. Und noch nie hatte Meno einen ähnlich einsamen Mann gesehen wie Abschnittsbevollmächtigten Heinz Hähnchen, der in der Mitte des freien Raums zwischen beiden Gruppen stand.

    Der Kreis um Nina Schmücke war gemischt; Richard, den sie wie einen alten Bekannten mit Wangenküßchen links und rechts begrüßte (wahrscheinlich, damit es Anne sah, er setzte zu einer Erklärung an, aber sie winkte ab), nickte zu Clarens und Weniger hinüber, der ihn überrascht und feindselig musterte, wobei er einem der vollbärtigen Männer in Karohemd und Jeans etwas zuflüsterte, die, soweit es Richard nach grober Orientierung erfassen konnte, das Hauptbild gaben. Anne war verunsichert von den Bildern an den Wänden, auf mehreren Staffeleien, deren Tropfsteinfarbkrusten mit den aggressiven Tönen auf den Leinwänden kämpften. Von einem der wenigen nicht verklebten, mit Pappe oder Sperrholzplatten zugenagelten Fenstern des Ateliers blickte Richard über die Neustadt: kaputte Dächer, indenen nackte Männer sich vor der sinkenden Sonne verneigten; zerfressene Schornsteine, darunter waren die Bohlen für den Schornsteinfeger alle belegt: ein dicker Mann schlief auf dem Rücken, Arme und Beine fielen seitlich herab, ein hagerer Mensch in schwarzer Latexkleidung schritt auf und ab, eine Frau kontrollierte ihre Angelausrüstung. Richard brachte Anne etwas zu trinken, stellte ihr einen Stuhl ans Fenster – die Diskussionen, die nach ihrem Eintritt unterbrochen worden waren, wurden, nachdem der Vollbärtige Nina Schmücke beiseite genommen hatte und von ihr offenbar beruhigt worden war, unter häufigem Streichholzanreißen und Feuerzeuggeklick fortgesetzt. Zäh, langsam, zäh. Richard kannte einige Anwesende: zwei Medizinisch-technische Assistentinnen aus der Neurologischen Klinik, den ehemaligen Assistenzarzt aus der Inneren, der die Chirurgie damals um ihren Weihnachtsbaumtriumph gebracht hatte, Frau Freese, die ihn unangenehm direkt anstarrte – er senkte den Kopf, wurde wütend über seine Feigheit, starrte herausfordernd zurück, worauf sich Frau Freese hinter die Schultern zweier Mitarbeiter der Kohleninsel duckte. Richard erkannte den Sachbearbeiter, der vor Regines Ausreise betrübt die Kartei durchblättert und ihn auf den Flur F gelassen hatte; mit dem anderen hatte er wegen des Gasdurchlauferhitzers zu tun gehabt. Schnelle Blicke, die von Gesichtern flüchteten und dazwischen warteten. Angst, die vor der Angst Angst hatte. Hände, die nicht wußten, wohin. Ein Ingenieur sprach über sein Leben, das vom Alltag, wie er in ausweichenden Beschreibungsschleifen mehr verhehlte als bloßlegte, nicht mehr »hinreichend« zu unterscheiden war … Stumpfsinn. Der Große Stumpfsinn beherrsche sein Dasein! Man stimmte zu. Man teilte die Erfahrung. Man bat um Vorschläge. – Man sollte gleich mit einem Sit-in beginnen, sagte eine Frau mit Piratenkopftuch und Leinenkleid, das eine, wie Richard fand, ebenso ungewöhnliche wie schöne Stickerei in Form und Rotweiß eines Straßenkegels trug. Es müsse sich endlich etwas ändern hierzulande, zu viele seien schon weggegangen, das halbe Hochhaus zum Beispiel, in dem sie wohne – wie das denn enden solle?
    »Vielleicht kann unser Gast etwas dazu sagen«, Weniger zeigte auf Richard, »er verfügt über Kontakte, die nicht jeder hat –«»Das ist eine bösartige Unterstellung, Manfred, das nimmst du bitte zurück.« Anne war aufgestanden.
    »Schön, wie du für deinen Mann eintrittst. – Nina, du hättest uns sagen sollen, daß du ihn einlädst. Überhaupt sehe ich zu viele unbekannte Gesichter.«
    »Wenn wir reden und unseren kleinen Kreis verlassen wollen, müssen wir nach außen gehen. Damit warst du einverstanden, Manfred«, entgegnete der Vollbärtige.
    »Mag sein, aber ich hätte gern erfahren, wen ihr einladet. Wenn er bleibt«, Weniger vermied es, Richard anzusehen, »werde ich gehen. Das Risiko ist mir zu

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