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Der Turm

Der Turm

Titel: Der Turm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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brauchen was zu fressen.« Pfannkuchen überlegte, ob er einem der jüngeren, schmächtigen Soldaten, die vor ihm an der Reihe gewesen waren, die Komplekte wegnehmen sollte, aber das besorgten schon andere aus der Wartereihe hinter ihnen, die Robusten nahmen den weniger Robusten das Essen weg, die schnelleren Verfolger den langsameren Wegrennenden, und wo jemand gegen dieses Gesetz protestierte, entschied die Faust das Recht. »Na, Käpt’n? Hast du ’ne Idee?«
    »Meine Abladerin«, sagte Christian nach einer Weile hungriger Absuchen seines Gedächtnisses, »lebt auf einem Hof irgendwo in der Kohle. Dort gibt’s bestimmt was.«
    »Weißt du, wo’s ist?«
    »Nicht genau«, zögerte Christian. Schecki hatte vage nach Norden gewiesen. »Taschenlampen und Kompaß, vielleicht finden wir’s. Wir könnten einen der Eisenbahner fragen.«
    »Sollten wir nicht tun, Nemo. Wenn wir was besorgen wollen, sollte es keine Mitwisser geben.«
    »Wir könnten auch anklopfen.«
    »Könnten wir. Aber wenn sie so wohnt, wie du sagst, wird sie nicht aufmachen. – Wir müssen vor Schichtbeginn zurück sein. Hab’ keine Lust, wieder einzufahren.«

    Doktor Varga hob die Lampe, verkürzte die Schatten auf den Wänden des Kellergangs. Das Wasser am Boden schien nicht mehr zu steigen, noch hatte es die Schafthöhe der Gummistiefel nicht erreicht, die die Männer trugen; auch begann es zu vereisen, so daß die Ratten, die ohne Scheu dem Lichtschein zu folgen schienen, einige Strecken zu tauchen hatten; die dunklen Leiber mit den spitzen, borstig behaarten Schnauzen paddelten unter dem Eis und blieben selbst dann besonnen, wenn einer der Soldaten, die Varga und Meno begleiteten, mit dem Stiefelabsatz nach ihnen trat. »Luftschutz«, las Meno, ein roter Pfeil wies auf eine Stahltür, deren Hebelklinke spinnwebverhangen war. Sütterlinnotizen auf den Kellerwänden, kyrillisch überkritzelt. Das Wasser stieg wieder.
    »Hier, glaube ich«, sagte Varga, aber er breitete die Arme vor den Türen. »Ich weiß nicht genau. Ich bin noch nie hier unten gewesen.«
    »Woda – otkuda?« fragte Barsanos Stellvertreter auf stummelrussisch. Die Soldaten zuckten die Achseln. Einer schlug mit dem Kolben seiner Kalaschnikow ein Vorhängeschloß von einer Tür, zu der die Ratten huschten, man konnte nicht erkennen, wohin sie verschwanden. Die Soldaten zerrten die Tür auf, Varga sagte »mal sehen« und ließ einen Drehschalter klacken, Licht hüpfte aus tiefhängenden, spinnwebverkrusteten Tellerlampen, die mit einem gedämpften, doch von der Raumtiefe hallig verzerrten »Fatsch« wieder Dunkel schluckten – dieses wimmelnde, mit pickenden und schabenden Geräuschen angefüllte Dunkel, in das Varga nun seine Grubenlampe schob. Meno dachte: wie das Ticken Tausender Uhren; aber es waren die Beinchen von Wanderratten, die auf dem vereisten Boden teils possierlich ruderten, schlitterten und strauchelten, doch zielsicher in die Tiefe strebten, teils mit panisch ausgreifenden Krallen Halt suchten; Myriaden von Wanderratten; schwarze Knopfaugen so zahlreich von der rauchigen Beleuchtung getroffen, daß sie in einer Art von Funkenregen durch den Raum sprang. Er schien sehr groß zu sein, man konnte die andere Seite nicht erkennen. Keiner der Männer wagte einen Schritt, die Soldaten hielten ihre Waffen umklammert – die Ratten blieben bei ihrem Ziel. Das Wasser kam nicht von hier, obwohl der Boden mit dickem Eis bedeckt war. Meno nahm Vargas Lampe (der Mikrobiologe war erstarrt, und ebenso der Stellvertreter, dem es jedoch gelungen war, den Kopf zu wenden); im schwachen Schein erkannte Meno Markierungen, Striche, die einen Kreis bildeten, das Eis klang porzellanhart; das seltsame Ticken der vielen tausend Beinchen hatte sich verstärkt. Aber dort stand ja ein Tor! Ein Handballtor, mit zerrissenem Netz, daneben Stangen und Kletterseile, Sprossenwand, gestapelte Gummimatten – die Turner waren auch da. Festgefroren im Eis, in verrenkten und geknickten Positionen, standen orthopädische Modelle auf dem Spielfeld, aus altem Holz geschnitten, das dunkel, als hätten es Generationen lernbegieriger Schüler abgegriffen, unter Menos Lampe aufglänzte.

    Die Taschenlampen blieben aus, Pfannkuchen wartete, bis das Dämmergrau die Dinge aus der Kellerfinsternis zurückzutauschen begann: einen Hackklotz mit ragender Axt, Gläser, dieSchaummassen miteinander verbacken hatten, so daß sie wie trüb glitzernde Mahlzähne in weißlich schimmerndem, geschwollenem Zahnfleisch zu

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