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Der Turm

Der Turm

Titel: Der Turm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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Unter der Plane wartete der Wagen. »Hispano-Suiza«: flüsterte Richard, schon der Klang erfreute ihn. Den Namen wiederholend fiel sein Blick auf eine Kombizange, die Gerhart Stahl benutzt hatte. Von seinem Flugzeug, der »SAGE«, wie er es nach den Anfangssilben von »Sabine« und »Gerhart« genannt hatte, war nichts mehr übriggeblieben, nur noch Kreidestriche, teils verwaschen von eindringendem Regen, teils unter Richards Schuhen verschmiert, wiesen die ehemalige Lage von Werkzeugen und Material. Die Kinder waren in Heime verbracht worden, in verschiedenen Städten, soviel hatte Richard von Sperber erfahren. In welche Städte? Sperber hatte verlegen beiseite geblickt und die Achseln gezuckt.
    Einige Atemzüge lang genoß Richard den Anblick des postgelben Ölkännchens auf dem schwarzen Bord. Wie es leuchtete. Wie präsent es war, und wie gelassen diese Präsenz. Dann ging er zum Wagen und zog die Plane ab.
    Der Hispano-Suiza war zertrümmert worden, mit fachmännischer Akkuratesse. Die Ledersitze waren aufgeschlitzt, das Lenkrad steckte mit abgesägter Lenkstange in der Polsterung des Fahrersitzes. Richard öffnete die Motorhaube. Die Leitungen, die so lebendig wirkenden Kupfer-Arterien, die vernickelten Treibstoffvenen, waren flachgeklopft und mit Genuß zerschnitten (oh, so etwas spürte man). Der Motor – mit Beton ausgegossen; in der erstarrten Masse, Richard konnte ihn ohne Mühe herausheben, lag wie in einem steinernen Futteral der beim Weihnachtsbaumdiebstahl vermißte Bolzenschneider. Daran baumelte, geschickt zwischen den beiden Schneiden befestigt, als wäre es ein Geburtstagspräsent, ein Zettel, auf dem in Schreibmaschinenschrift »Mit sozialistischem Gruß« geschrieben stand.

    Schienen, gepolsterte Schalen für die Beine, Lederriemen: Das Gestühl vor den gekachelten Wänden, wenn es auch einealtertümliche Variante war, hatte Christian in seinen Famulaturen schon gesehen, ebenso die Vitrinen mit den säuberlich aufgereihten Instrumenten – angeschrägte Stahlzylinder verschiedener Größe, Kornzangen, Nierenschalen, Klemmen. Von nebenan, aus der heißgeheizten, kupferblitzenden Küche, roch es süßsatt nach Kuchen. Die Honigschleudern ratterten und rumpelten, Pfannkuchen und Christian kurbelten den Einbruch ab. Schanett entließ sie in den Abendstunden mit einem Schuhkarton voll Bienenstich.

    Eines Aprilabends, es waren mehr Menschen auf Spaziergängen unterwegs als sonst, schlug Pfarrer Magenstock den Aufruf einer Umweltgruppe im Schaukasten vor der Kirche an, ein orangeknalliges Papier, ein Augenmagnet, zwischen Bibellosungen und einem Dritte-Welt-Spendenzettel. Meno blieb stehen und beobachtete Herrn Hähnchen, den Abschnittsbevollmächtigten des Viertels, der widerstrebend näher kam, zu Boden und zum in Blütenfarben verwelkenden Himmel blickend, die Hände abwechselnd auf den Rücken oder vor dem imposanten Bauch in die Hosenträger Marke »adidas« legend, die aus der Uniformjacke lugten. »Sie wissen, daß Sie das nicht sollen«, bemerkte Herr Hähnchen, nachdem er den Aufruf gründlich, durch die zuvor umständlich aufgeklappte Brille, studiert hatte. Inzwischen hatte sich Kantor Kannegießer mit rot erschrockenem Gesicht neben Pfarrer Magenstock gestellt, deckte ihn tiefatmend; der große dicke Abschnittsbevollmächtigte und der kleine dünne Kirchenmusiker maßen einander eine Weile mit erstauntem Kopfaufundab.
    »Sie wollen wohl ein Held sein?« fragte Hähnchen und hatte traurige Augen.
    »Das Wort Held kommt im neuen Testament nicht vor, Herr Hähnchen. Ich kann es vor meiner Gemeinde, vor meinem Gewissen nicht mehr verantworten, zu schweigen«, sagte Pfarrer Magenstock.
    Hähnchen schwieg, bemerkte dann, daß er dies verstehe. Doch müsse er von Amts wegen die Entfernung des Aufrufs wünschen. »Sie haben doch auch Kinder, Herr Hähnchen«, rief Malthakus, der in Begleitung von Kühnasts und Krausewitzensnähergetreten war und sich an Magenstocks Seite stellte. Herr Hähnchen antwortete, daß dies stimme.
    »Es hat doch keinen Zweck, die Augen zu verschließen«, stellte Zahnärztin Knabe fest, die mehrere Einkaufsbeutel trug, und trat in Begleitung einiger MitgliederInnen ihres kürzlich gebildeten Emanzipationskreises gleichfalls an Magenstocks Seite. »Herr Rohde, kommen Sie mal her!« befahl sie.
    »Herr Hähnchen«, sagte Meno, »vielleicht besteht die Möglichkeit, daß Sie nichts gesehen haben?«
    Herr Hähnchen meinte, daß diese Möglichkeit grundsätzlich immer

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