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Der Turm

Der Turm

Titel: Der Turm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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Judith Schevola – in der verwegenen Lederkluft der Luftschiffer; sogar eine entsprechende Fliegerkappe hatte sie aufgetrieben – und Philipp Londoner; er in der abgerissen-pittoresken Tracht eines Freibeuters.
    »Der Fliegende Holländer«, kam es spöttisch aus dem Eselskopf, »mit Gewitter und Sturm aus fernem Meer. Und das vor dem Festtag der Arbeiterklasse. Sein Steuermann ist auch dabei. Nebst lederner Senta. – Fatigant, hidös und, vor allem, nicht hold. Was meinst du, Albin?«
    »Sie soll sich hüten, meine ich. Das Meer ist kalt und tief.«
    »Ihre Kollegen«, der Eselskopf nickte zum Eingang, »Heinz Schiffner in Toga, um die Stirn ein Lorbeerkranz. Und in der Hand hält er eine Distel, wahrscheinlich sogar eine echte. Damit muß er Vertragsklauseln meinen. Was sagen Sie zu dieser Entpuppung Ihres Chefs, Rohde? Das geht übers Bohnenlied. Nicht wahr, das würfelt Sie hin und her?«
    »Fräulein Wrobel als Schokoladenmädchen«, sagte Albinlippenleckend, »ein appetitlich Kind, es reizt mich sehr, die Strenge einmal weich zu sehn. Und eine Waage führt sie auch, die Schalen heißen Kommen, Gehn. – Ich halte Ihren Platz frei«, rief er Meno nach.
    Die Nomenklatura Parteidresdens rollte an. Sie rollte: auf gummibereiften Kremsern des Fuhrgeschäfts Heckmann; die Pferde-Jule hockte auf dem vordersten Kutschbock und trieb zwei Kaltblüter mit lustiger Peitsche. Die Standseilbahn brachte Gäste und Anwohner, die verstohlene Blicke auf die als Ritter verkleideten Parteisekretäre warfen, die einander lautstark zuprosteten. Die als Burgfräulein ausstaffierten Ehefrauen waren stiller. Die Passanten duckten sich und gingen rasch davon.
    Judith Schevola blickte durch das Mikroskop, als Meno zurückkam. »Die sind doch nicht etwa ansteckend?«
    »Wovon reden Sie?« fragte Meno irritiert.
    »Von den hübschen Dingen auf Ihrem Objektträger natürlich.« »Na, Dinge sind es ja nun nicht«, sagte Albin, der ebenfalls durch das Okular spähte. »Klären Sie uns auf, Herr Rohde. Ich sehe nur Pünktchen, Striche und Kommas.«
    »Ich habe kein Präparat mitgebracht«, Meno beugte sich übers Mikroskop, »Kokken in Eosin-Färbung, auf den ersten Blick. Es muß jemand eingeschoben haben.«
    »Eosin, welch poetischer Name in den kühlen Bezirken der Gewebekunde«, lebte der Eselskopf des alten Eschschloraque auf. »Eos, die rosenfingrige, lateinisch Aurora. Und jener Schuß im Jahre Siebzehn, der eine Bresche schlug ins Tor der Zeit. Was ich fragen wollte, Fräulein Jahrestief: Wie fliegt es sich mit dem Kälterat? – Doch silentium, Kameraden. Unser Fürst greift nach dem Wort.«
    Barsano sprach schlecht, aber kurz. Es waren die gleichen Phrasen wie immer, und Meno fragte sich, ob Barsano glaubte, was er sagte, ob es einen Mann gab hinter diesem, so wie er es von Londoner kannte, der im Professorenkollegium und bei sonstigen Gelegenheiten ganz anders sprach als zu Hause im vertrauten Kreis. Über Barsano war einiges im Umlauf, Londoner hatte Meno berichtet, daß der Erste seit einiger Zeit in Berlin nicht mehr gut angeschrieben stehe, zu nahe sei er »den Freunden« in Moskau, zu groß seine Sympathie für gewisse Ideen desVorsitzenden des Obersten Sowjets. Es habe »Besuche« gegeben. Jetzt lag der alte Londoner krank im Haus am Zetkinweg, doch erst gestern hatte er sich an der Lesung eines Stücks mit verteilten Rollen erlabt, Menos Aussprache des Englischen verbessert und bei Lieblingsstellen so vergnügt-mitgerissen sekundiert, daß die Krankheitsabsage Meno nachdenklich stimmte. Doch hätte Londoner, davon war Meno überzeugt, mindestens Philipp, Judith, die Eschschloraques und ihn davor gewarnt, auf Barsanos Fest zu erscheinen, wenn dies gefährlich gewesen wäre. Vielleicht, sann Meno, hatte Londoner aber eine solche Warnung absichtlich unterlassen, da es die Glaubwürdigkeit seiner Entschuldigung erhöhte, wenn zwar er selbst fehlte, seine Nächsten jedoch anwesend waren; so würde Barsano kaum Verdacht schöpfen. Die Machtverhältnisse schienen im Fluß zu sein … Barsano war im »Neuen Deutschland« angegriffen worden, dies hatte die »Prawda« mit jenem »Befremden« kommentiert, das für Ausschläge in den Seismogrammen sorgte und selbst weniger geübte Beben-Leser alarmierte.
    Ein Conferencier übernahm, er trug den gleichen roten Schlips wie der Pianist, der mit ausgestreckten Armen und geschlossenen Augen ins Leere tappte (man hatte das Klavier umstellen müssen); auch die anderen Musiker der Tanzkapelle

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