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Der Turm

Der Turm

Titel: Der Turm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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den Hut wieder auf, nahm den Stift, war aber so aufgeregt, daß ihm sein Namenszug zum Krakel geriet. Er faltete den Durchschlag und steckte ihn zusammen mit dem Personalausweis in seine Brieftasche. Die Schranke hinter dem Kontrolldurchlaß öffnete sich.
    Auf der Brücke, am gegenüberliegenden Kopf, waren einige Soldaten mit Schneeschippen und Eisabklopfen beschäftigt. Meno drückte den Hut fester und sicherte den aufgeschlagenen Mantelkragen mit der Knöpflasche am Revers; hier oben blies derWind empfindlich rauh, wehte den Schnee unablässig über die mit Noppen versehenen Gußeisenplatten, auf denen man lief, spielte mit den Glühlampen, die nackt an Drähten zwischen den übermannshohen Brückengeländern herabhingen, griff in die Stahlseile, die den Brückenbogen zwischen den Hängen sicherten, wie in Harfensaiten, was ein dunkles, singendes Geräusch ergab, das manchmal von einem heftigen Krachen, wie bei Eisbruch, durchschossen wurde.
    Über dem Taldurchstich Richtung Körnerplatz und Elbe war das milchige Frühlicht bis an die Flanken Ostroms gestiegen; faßte den von Fichtenwipfeln gesägten Kamm, aus dem das Kastell der Schwebebahn wie ein antiker Triumphbogen ragte, in rötlichen Schein, ließ die Standseilbahn erkennen, deren Wagen eben das Schleifenmanöver in der Streckenmitte vollführten; die Autoschlange unten auf der Grundstraße, Vogelstroms Haus, verschneite Gärten mit den schwarzen Klecksen aufgeschichteter Holzschober. Von den meisten Dächern stieg schmutziggrauer Schornsteinrauch; vom Wind abgerissen, trieb der Dunst wie Fetzen von Scheuerlappen durch die Luft. Hin und wieder teilte sich der Nebel, dann konnte Meno sehen, wie die Autoschlange zäh in Richtung Körnerplatz kroch, wie sich ein Bus der Linie 61 schnaufend die Straße hinaufquälte, konnte den zackenstarrenden Eispinsel erkennen, zu dem die Weiße Schwester über dem Mühlrad der nicht mehr im Gebrauch befindlichen Kupfermühle gefroren war. Ob ihn von unten jemand beobachtete? An Hut oder Gestalt erkannte? Das Brückengeländer war hoch, und die Brücke selbst hing etwa zwanzig Meter über der Grundstraße, so daß es ihm unwahrscheinlich vorkam. Dennoch ging er schneller. Die Soldaten grüßten ihn in Habachtstellung, als er passierte. Das erschreckte ihn. Sah er aus wie ein Oströmer, wie ein einflußreicher Funktionär mit seiner Aktentasche, mit Hut und Mantel? Hatten sie ihn wiedererkannt? Er kam nicht zum ersten Mal hierher. Sein letzter Besuch immerhin lag beinahe zwei Jahre zurück. Damals hatten Hanna und er sich scheiden lassen. Wenn die Soldaten zu jener Zeit Rekruten gewesen und jetzt als Reservisten wieder eingezogen worden waren, mochten sie sich an ihn erinnern können. Oder grüßten sie jeden, der über diese Brücke kam – auf Verdacht und aus Angst vor der Eitelkeit eineswichtigen oder auch nur sich wichtig nehmenden Mannes? Mit diesen Gedanken passierte Meno den zweiten Kontrolldurchlaß. Ein Hauptmann winkte ihn durch, ohne noch einmal seinen Ausweis zu verlangen. Vielleicht hatte der Oberleutnant ihn informiert, und der Hauptmann kannte ihn als zuverlässig wachsamen Kollegen, so daß er sich eine zweite Kontrolle ersparte. Dennoch: Meno wunderte sich. Diese Laxheit war neu. Selbst wenn er mit Hanna ausgewesen und über die Brücke zurückgekommen war, hatten sie regelmäßig zwei Kontrollen über sich ergehen lassen müssen; keiner der beiden Offiziere war vor Hannas Mädchennamen, unter dem sie in der Kladde verzeichnet war und den sie vorsorglich nannte, zurückgeschreckt. Damals war die Brücke der einzige Zugang nach Ostrom gewesen – die Schwebebahn hatte wegen eines Materialfehlers seit Monaten defekt gelegen –, und erst als Barsano höchstpersönlich, Erster Sekretär der örtlichen Parteileitung, jedesmal doppelt kontrolliert wurde, wenn er über die Brücke ging, bekam die Reparatur der Schwebebahn ungeahnten Schwung.
    Meno stand auf dem Oberen Plan. Die Reichsbahn-Uhr über dem Kontrolldurchlaß klackte auf dreiviertel acht. Zum Oktoberweg, wo der Alte vom Berge wohnte, war es von hier aus nicht weit. Die Flocken fielen weniger dicht; der Wind hatte nachgelassen; die Fahnen an den Masten rechts neben dem Kontrolldurchlaß schlugen träge: die rote mit Hammer und Sichel, die schwarzrotgoldene mit Hammer, Zirkel und Ährenkranz, die blaue mit aufgehender Sonne in der Mitte, eine weiße mit den stilisierten Porträts von Marx, Engels und Lenin. Wachtposten standen neben den Fahnenmasten, sie

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