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Der Turm

Der Turm

Titel: Der Turm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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fiel ihm ein, daß er in Grefes Personalakte die Bitte um Aufnahme in die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands entdeckt hatte … Na, wenn schon! entschied er, wenn aus ihnen was werden soll, muß man sie hart anfassen. Unterm Strich hat Elfriede fünfhundert Tupfer mehr in ihren Sterilisierboxen, Tupfer, die die marode sozialistische Wirtschaft nicht herzustellen fertigbringt! Wenn er in die Partei eintreten will, die unser aller Leben bestimmt, soll er es kennenlernen, das Leben, das dabei herausgekommen ist!
    »Kugelfräse«, verlangte Wernstein, fräste den Knochen auf.»Leziusnagel auf Führungsgriff. – Wer war Lezius?« Diesmal hatte Wernstein gefragt. Das aber wußte Pflichtassistent Grefe und hielt stolz einen kleinen Vortrag. Es blieb bei fünfhundert Tupfern.
    Nach der Operation ging Richard zur Akademieverwaltung. Er nahm den Weg durch die Klinik. Wernstein hatte die Patientin, eine sechzigjährige Frau, die beim Treppewischen ausgeglitten war und sich beim Sturz den Oberschenkelbruch zugezogen hatte, in knapp einer Dreiviertelstunde operiert; die Fluruhren rückten auf neun. In der Klinik herrschte die Atmosphäre, die Richard seit dem Medizinstudium vertraut war, seit er, nach der Schlosserlehre, als Hilfspfleger, dann jährlich in den Semesterferien als Student und Famulus den Krankenhausbetrieb von der Pike auf kennengelernt hatte: Die Morgenvisiten waren auf den Stationen der Nordseite vorüber, Schwestern eilten hin und her, Ärzte standen über Krankenblätter gebeugt oder betrachteten Röntgenaufnahmen. »Morgen, Herr Oberarzt.« – »Morgen, Schwester Gertrud.« – »Morgen, Herr Oberarzt.« – »Morgen, Schwester Renate.« Vertraute Gesichter, manche kannte er seit zwanzig Jahren; kannte auch die Menschen hinter den Alltagsmasken, wußte von den großen und kleinen Kümmernissen, die man nicht am Tage erfuhr, in der Hektik des Stationsbetriebs, sondern in den Spätdiensten, wenn Zeit für einen Kaffee blieb, oder nachts, wenn die Stadt schlief und die Akutfälle versorgt waren. Schwester Renate, die selbst nach zweiundzwanzig Jahren Dienst noch wie eine Schülerin vor ihrer Stationsschwester zitterte und deren erster Mann hier auf dieser Station, der chirurgischen Krebsstation, gestorben war. Richard wich einem Scheuerlappen aus, den ein Hilfspfleger mit schwungvollen Halbkreisen über den PVC-Belag des Bodens führte. Dieser Geruch nach Desinfektionsmittel, Wofasept – wie vertraut; wie rief er sofort all dies wach: die Krankenschwestern mit ihren Blutdruckmeßgeräten und Infusionsständern, das Klirren von Scheren und Glasspritzen in Nierenschalen, die eben jetzt, im Stationszimmer, an dem er vorbeiging, in den Sterilisator gestellt wurden, das kalkige Neonröhrenlicht im Flur. Er ging ins Vestibül. Essenwagen klapperten an den Aufzügen, Stimmendunst drang hinter der Glas-Schwingtür der Süd I hervor, Müllers kräftiges,wohlartikulierendes Organ: Die Privatstation hatte heute Chefvisite. Richard eilte an der Büste Carl Thierschs vorbei nach draußen. Eigentlich hatte er, bevor er zur Verwaltung ging, noch einen Abstecher auf seine Stationen machen wollen, um dort kurz nach dem Rechten zu sehen, aber dann wäre er wahrscheinlich dem Ärztetroß begegnet, und dazu – und vor allem: Müller zu sehen – verspürte er keine Lust. Wernstein hatte die Visite auf der Nord II gehalten; Trautson, Richards Oberarztkollege, auf der Nord III, gemeinsam mit Dreyssiger, der Dienst gehabt hatte und die Ambulanz übernehmen würde. Auf Wernstein konnte er sich verlassen, auch heute bei der Visite war die Nord II in klarer Ordnung gewesen. Bei Dreyssiger mußte man ein wenig aufpassen; er war ein guter Wissenschaftler und auch pädagogisch begabt, die Studenten mochten ihn; aber was auf der Nord III, seiner Station, geschah, wußte die Stationsschwester in der Regel besser, oft auch der junge Pflichtassistent, den Richard gern bei sich gehabt hätte.
    Er verließ die Klinik und schlug den Weg zum alten Akademieteil ein, wo das Verwaltungsgebäude lag. Die frische Schneeluft tat ihm gut, er atmete sie in tiefen Zügen ein. Mit Unbehagen dachte er an die ihm jetzt bevorstehende Sitzung. Ewige Kämpfe an der Verbandsmull-, Tupfer-, Infusionsflaschen-, Gips-Front. Lappalien. Einerseits. Andererseits hatte das Rektorat von ihm verlangt, das Manuskript seiner Weihnachtsvorlesung zur Prüfung einzureichen. Absichtlich hatte er es jetzt nicht mitgenommen. Wie hatte Wernstein vorhin gesagt? Mal sehen.

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