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Der Turm

Der Turm

Titel: Der Turm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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gern ein Hiobsbote, nicht wahr? Aber ich bin ein schlechter Gastgeber. Möchten Sie Kaffee oder Tee?«
    »Jetzt kann ich weiterschreiben. Diesen Brief mag ich so nun doch nicht abschicken. Ich habe Fieber gehabt, mußte den akuten Schub im Bett auskurieren. Doktor Fernau, mein Arzt, macht Visite, aber danach kommt er unter 40° nicht. Bagatellen, sagt er, der Körper hilft sich bis zu dieser Grenze allein. Ich war erschöpft und müde, mußte viel nachdenken. Nun habe ich michwieder einigermaßen gefangen, und so schnell will ich nicht aufgeben. Ihre Fragen haben so vieles in mir wachgerufen…
    Bin ich draußen, unbehütet? In einer Landschaft aus schwerem Schnee, denn ich greife ins Weiß und sehe mich in die Knie gehen bei dem Versuch, es Vater gleichzutun, der die Kugel emporhebt und vorsichtig auf die andere senkt, so daß die Schneefrau einen Rumpf bekommt; meine Schwester hat mit einem großen selbstgebastelten Holzkamm die Falten des Rocks schon eingekerbt, wartet jetzt auf die dritte, meine, Kugel, um Strohhaar daran zu befestigen, mit Kohlebröckchen Augen zu markieren, eine Mohrrübennase aufzustecken und über das Ganze einen zerbeulten Topf zu stülpen, der sonst im Schuppen steht und sommers mit Blumenzwiebeln gefüllt ist. Das Email ist an mehreren Stellen abgeplatzt, die Flecken gleichen schwarzen Inseln, weshalb ich sage: der Landkartentopf, Gundel, wir fahren in die Südsee damit. Unbehütet. Ohne Hut, ohne Hüter. Aber Vater steht neben mir, mein Gesicht brennt von seiner Ohrfeige, denn es geht nicht an, daß ich, der Sohn des Kreisapothekers Hubert Altberg, nicht genug Kraft besitze, eine lächerliche Schneekugel auf zwei andere zu heben. Die große rote Hand. Auf dem Handrücken Schlacken von Sommersprossen, rotblonde Haarbüschel auf den Fingern, dicht; Vaters Faust (riech mal hier dran, Friedhof, was?) wirkt bepelzt. Katzenerziehung: Er wirft die Jungen in die Regentonne hinter dem Haus – entweder es gelingt ihnen, sich herauszustrampeln aus der Nässe, die den Blumen der Vorgartenrabatten so guttut, oder sie werden in die Tiefe gesogen, die noch minutenlang weiche Schatten spielen läßt. Das Katzenjunge, das es geschafft hat, wird am Genick gepackt und noch einmal über das Wasser gehalten; Vater blickt ernst auf die kämpfenden Pfoten, scheint zu überlegen, ob meine Schwester und ich, die wir an der Tonne warten müssen, verstehen, was er meint; schwenkt den Arm schließlich beiseite (aber nicht immer: Manchmal wirft er das Junge ein zweites Mal hinein und drückt mit dem Daumen das Köpfchen unter Wasser bis zum Schluß), öffnet die Faust über dem Erdboden, dann erst dürfen wir die Katze aufnehmen und trockenreiben.«
    Altbergs mimische Verwandlungsfähigkeit beeindruckte Meno. All diese tausend Runzeln und Falten schienen nur dafür dazusein, jeden möglichen Gesichtsausdruck mit holzschnitthafter Präzision wiederzugeben; das Licht im weitläufigen Arbeitszimmer, das herrische Schatten warf, hatte diesen Eindruck noch verstärkt. Schauspielerische Leistung? So war es Meno nicht vorgekommen; jede Empfindung, die sich auf dem Gesicht des Alten malte, schien in diesem Moment wirklich vorhanden zu sein, und jede unmißverständlich. Empfindungsessenzen: Bei diesem Wort sah er die Apothekenschränke aus Nußbaum wieder vor sich, vor denen der Alte auf- und abgegangen war, die braunen und weißen Fläschchen mit ihren vielfarbigen Inhalten, Etiketten mit Halbmondecken und schnörkeliger Gallustintenbeschriftung, die Feinwaage auf einem Regal über dem Schreibtisch. Der Alte warf das Manuskript in eine Schublade und murmelte etwas in einem eher verächtlichen als resignierten Ton, der Meno erschreckte. Die Haushälterin kam, brachte Kaffee, heiße Milch und einen Korb mit Zwieback, hielt Altberg vorwurfsvoll einen Schal hin, den er mit angeekeltem Gesichtsausdruck um den Hals wand, nahm von einem Bord einen Porzellanmörser und ein Pistill, zerrieb Tabletten. »Deine Medizin, du hast sie wieder nicht genommen«, sagte die Haushälterin mit einer Stimme, die des Erinnerns müde war, der Fruchtlosigkeit, mit der sie gegen den Starrsinn des Alten ankämpfte. Der zog eine Grimasse, winkte ab, ging ans Fenster, schlürfte die Milch, nachdem er den Mörserinhalt in die Tasse geschüttet hatte.
    »Ich darf noch nicht aufstehen, deshalb ist sie so kurz zu Ihnen. Mein Doktor hat es mir verboten. Sie ist seine Verbündete und gönnt mir die Freude nicht, Besuch zu bekommen!« krächzte der Alte mit

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