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Der Turm

Der Turm

Titel: Der Turm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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kälterauchenden Mündern beten, dann eine Brennesselsuppe mit einem Kanten Brot essen. Wir: zehnjährige Jungen mit kurzgeschorenem Haar, ausgewählt und auf Ehre in die Löschburg gegeben aus ganz Schlesien, die anstelligsten Köpfe des Landes, wie Vater sagte; ich finde seinen Namen in mein Pult geritzt. Aufspringen bei der Antwort, Hände an die Hosennaht, Setzen nur nach Aufforderung, Nachtruhe auf Kommando, lateinische Vokabelreihen, beim Repetieren je vergessenes Wort eins mitder Weidengerte auf die Handfläche, Leitmotiv: Schmerz prägt ein! Mein Bett- und Pultnachbar, er heißt Georg wie ich, wagt es, einem Lehrer zu widersprechen; ein Monat Burgkarzer bei nachzuholendem Unterrichtsstoff bringen ihn zum Schweigen – und mich, der ich die Strafe ebenfalls antreten muß, zur Verzweiflung, in die Krankenstation, zum Haß, zur Angst und zum Grübeln. Ich habe etwas getan, das, wie der Rektor beim Strafappell verkündet, schlimmer ist als Georgs Widerspruch: Ich habe ihn unterstützt, ich war loyal zum Abweichler, nicht zur Schule; ich habe der unbezweifelbaren Autorität des Lehrers nicht gehorcht, seinem höheren Rang, ausgedrückt in einer Silberlitze auf den Schulterstücken, wo wir, die Schüler, nur eine Stoffziffer tragen. Ich bekomme den Monat Karzer statt sofortiger Relegation, weil Vater beim Rektor vorspricht und sich einig weiß mit ihm, daß ich der »schweren Hand« bedarf. Die Relegation wird abgewendet. Ich bekomme Prügel mit dem gewässerten Rohrstock, darf in die Schlafstube zurück, wo Arthur, mein persönlicher Diener – den ich, wie alle anderen Schüler es mit ihren Dienern tun, nie anders als mit seinem Vornamen anspreche –, wieder meinen Nachttopf und mein Waschwasser ausleeren wird, für mich, der ich zur jungen Elite des zukünftigen deutschen Musterstaats zurückgekehrt bin, zu denen, deren Widerstand gegen die Silberlitzen darin bestehen wird, sie zu erringen.«

    »Übrigens habe auch ich Ihre Arbeit über die Spinnen gelesen. Arbogast war so freundlich, mir eine Hektographie davon herzustellen. Ich nehme an, daß er Sie zu einem unserer Urania-Treffen eingeladen hat? Er wollte es tun, das stand im Begleitschreiben an mich.«
    »Ich habe ihn heute morgen getroffen, und tatsächlich hat er mir diese Einladung ausgesprochen.«
    »Was halten Sie von ihm?« Der Alte vom Berge musterte Meno bei dieser Frage mit einem schnellen, kalten Blick.
    »Ich kenne ihn nicht, und aus dem Umstand, daß er auf das ›von‹ Wert legt, einen Spazierstock mit Greifenkrücke trägt und einen unerzogenen Hund hat, sollte man, denke ich, keine populärpsychologischen Schlüsse ziehen. Es sind bloße Etiketten.«
    »Und damit, meinen Sie, verhält es sich wie mit dem Glas Spreewälder Gewürzgurken, die das Etikett darauf anzeigt; aber wie sie schmecken, verrät es mir nicht, das Stückchen Papier! Eine gute Antwort. Eine vorsichtige Antwort.« Der Alte vom Berge lachte leise. »Sie mißtrauen mir. Sie verachten mich insgeheim, und Sie reagieren wie ein Fuchs, der den Jäger wittert.«
    »Herr Altberg, das unterstellen Sie mir!« erwiderte Meno ungehalten. »Warum sollte ich Sie verachten? Wie käme ich dazu? Glauben Sie mir, bitte.«
    »Ich weiß, Sie haben es ja vorhin gesagt: Auch Sie halten eine bessere Gesellschaft für möglich … die gerechte Lebensordnung, in der die Menschen glücklich sein können. Egalité, Fraternité … die siebzehnhundertneunundachtziger Ideale, mit anderen Worten: das sozialistische Himmelreich! Es stammt aus Paris, wie wir sehen. Die Hoffnung bei den Alten ein Übel war … Egalité, nun ja. Bald werden wir das Jahr der Menschen haben, die gleicher sind als alle anderen.«
    »Sie lesen Orwell?« bemerkte Meno mit feinem Lächeln. »Wenn Sie mich auf die Probe stellen wollen –«
    »So wäre es ein schlechtes Probestellen, wenn ich den Klassenfeind zuerst zitiere, um Sie aus der Reserve zu locken; dann immerhin habe ja auch ich meine Nase dorthinein gehalten! Sie haben Humor, Herr Rohde, das gefällt mir. Humor ist ein untrügliches Zeichen …« Meno fragte nicht, wofür, als der Alte unvermittelt abbrach.

    »1940 der Amtsbrief mit Hakenkreuz und Stempel. Romantik und Verwaltung, Herr Rohde, es gibt nichts, das schlimmer ist. Gestellungsbefehl für den Jahrgang 22, zu dem ich gehöre. Einrücken in die Kaserne; ich tat es mit Freude, ich war ein bedingungsloser Anhänger des Nationalsozialismus, ich, blond, blauäugig und 1,85m groß, hatte nichts von ihm zu

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