Der Turm
studieren, das Kinn auf die rechte Hand und diese auf den waagrecht gehaltenen linken Arm gestützt? Fräulein Leukroth lauschte. War es Zeit für ihre Medizin? Es wäre begrüßenswert, wenn in unserem Hause mit dem Packpapiere sparsamer umgegangen werden würde; Zeitungen vom Vortage erfüllen den Zweck des Einschlagens von Büchern ebensogut, weswegen ich, wie Sie wissen, stets einen Vorrat mit mir bringe. Die Dativ-»e« waren sorgfältig unterstrichen.
12.
Rost
Lernen, unerbittlich, unermüdlich, unersättlich, mußte man, wenn man eines Tages zu den Großen gehören wollte – auch das hatte Christian gelernt. Niklas, Ulrich und Richard ließen wenig gelten außer dem Besten und Bedeutendsten; Ezzo, wenn er ein Stück vorspielte, bekam zu hören, daß es dieser oder jener Geiger besser gemacht habe, daß ihm noch dies oder jenes fehle, »um wirklich zu ergreifen, um die Noten nicht nur zu spielen, sondern mit Leben zu erfüllen; es hat noch keine Tiefe«. Christian hatte es gelernt, wenn Richard seine Schulzeugnisse hervorholte und stumm auf eine Eins tippte, wo Christian noch eine Zwei hatte; eine Drei glich bereits einer mittleren Katastrophe, und was bei einer Vier oder gar einer Fünf, dem größten anzunehmenden Desaster, passieren würde, wagte er sich nicht auszumalen. Er wagte sich auch nicht auszumalen, was er tun sollte ohne den Studienplatz Medizin.
»Arzt«, sagte Richard, »ist der beste und schönste Beruf, den es gibt. Es ist eine klar umrissene, hilfreiche Tätigkeit, deren Ergebnisse unmittelbar sichtbar sind. Ein Patient kommt mit Beschwerden. Der Arzt untersucht ihn, stellt eine Diagnose, beginnt die Therapie. Der Patient geht geheilt nach Hause, befreit von Schmerzen, fähig, wieder seiner Arbeit nachzugehen.«
»Wenn er nicht gestorben ist«, entgegnete Ulrich. »Ist euch aufgefallen, daß Krankenhäuser oft neben Friedhöfen stehen? Und zwar neben solchen mit fortwährend buddelnden Totengräbern. – Die Wirtschaft, Junge, bietet die besten Berufe. Schau, du schaffst reale Werte. Du produzierst, sagen wir, Toilettendeckel. Ihr braucht nicht zu grinsen, es wird Zeit, daß jemand eine Verteidigung des Toilettendeckels unternimmt. Dieses mißachtete Oval braucht jeder, auch wenn niemand darüber redet. Übrigens, wußtet ihr, daß es auf französisch le couvercle heißt? Du wirst nicht groß im Rampenlicht stehen, wenn du Kuverkel herstellst, das nicht; aber wehe, sie sind nicht lieferbar. Die Wirtschaft ist das wahre Leben! Und du wirst ’ne Menge damit verdienen.«
»Du und deine blöden Witze, verwirre doch den Jungen nicht,Schnorchel«, tadelte Barbara. »Die Wirtschaft! Von welcher sprichst du? Von der sozialistischen? Daß ich nicht lache!«
»Du kannst ruhig lachen, mein liebes Flöckchen, aber ich sage dir, daß die Gesetze der Wirtschaft auch im Sozialismus …«
»Richard hat gar nicht so unrecht. Der Junge soll was Handfestes lernen. Ich war ja immer dafür, daß er Herrenschneider wird. Ich glaube, er hat eine natürliche Begabung zum Herrenschneider. Das Gefühl für Stoffe scheint ja in der Rohde-Familie zu liegen … Meno hat auch einen Sinn dafür. – Werd’ aber bloß nichts mit Büchern, Christian. Ist alles Käse. Stimmt’s, Meno?«
»Nicht ganz. Bißchen Quark ist auch dabei.« Meno beteiligte sich kaum an solchen Diskussionen und hielt sich, während die anderen stritten, an das Abendbrot.
»Ach was, ich kenne Schriftsteller! Sie kommen zu mir und klagen mir ihr Leid. Sie wollen schreiben, daß der Himmel blau ist, aber sie müssen schreiben, der Himmel ist rot! Ein Anzug hat immer zwei Ärmel, hier wie im Westen. Und Knöpfe hat er auch. Einer dieser … Kritzler! hat mich gefragt, ob ich nicht denjenigen kenne, der die Knöpfe herstellt, er möchte auch Knöpfe herstellen, nichts als Knöpfe.«
»Als Arzt bist du Generalist. Du mußt alles können. Du mußt sogar was von Wirtschaft verstehen. Und viele Ärzte, die ich kenne, sind musisch veranlagt. Kunst, Handwerk, Bildung: alles trifft sich im Arzt. Du kannst in die Forschung gehen, wie es Hans getan hat. Toxikologen werden auch immer gebraucht. Du kannst sogar, wenn du neben Medizin noch Geschichte studierst, Medizinhistoriker werden, wir haben einen Lehrstuhl an der Akademie. Ein gutbezahlter Professor, bestens aufgehoben in der medizinischen Fakultät, weg von den Ideologen. Der sitzt den ganzen Tag da und schreibt Bücher.«
»Also, ich glaube, das schönste ist doch die Musik«, sagte
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