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Der Turm

Der Turm

Titel: Der Turm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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Niklas.

    Abends ging Christian, wenn er bei seinen Eltern war, gern allein spazieren. Er sah wenige Menschen, meist lag das Viertel in tiefem Schweigen. Deutlicher als je spürte er das Melancholisch-Einsame der alten Villen mit ihren spitzen Giebeln und steilen Dächern, beleuchtet von den Adventssternen in den Loggien und auf den Altanen, vom geringen Licht der noch funktionierendenStraßenlaternen. Schnee fiel, Schnee schmolz, manchmal regnete es auch. Dann hörte er seine Schritte auf dem nassen Pflaster der Bürgersteige hallen und fühlte, daß die Häuser etwas verbargen, eine schleichende, heimtückische Krankheit, und daß diese Krankheit mit ihren Bewohnern zusammenhing.
    Er ging oft zu Niklas, den er sehr liebte, und freute sich dann schon lange im voraus, schon während der letzten Unterrichtsstunde, während der eintönig schaukelnden Fahrt von Waldbrunn nach Dresden, auf den Besuch bei seinem Onkel. Hatten sie zwanzig Uhr vereinbart, lief er schon eine Stunde vorher unruhig durch die Straßen, sah zu den Lichtern und fragte sich, was die Bewohner hinter den Fenstern wohl trieben, ob sie bei den Glockenschlägen aus der Stadt, beim Klang der Uhren, der durch die geschlossenen Fenster hörbar war, auch an diese Krankheit dachten, die er noch nicht benennen konnte, sosehr er es auch versuchte. Er hatte einmal mit seinem Onkel Hans darüber gesprochen, Hans hatte ihn überrascht angesehen, die Achseln gezuckt und mit ironischem Lächeln »wir werden vergiftet, nichts weiter«, geantwortet, hatte hinzugesetzt »Die Zeit, die ist ein sonderbares Ding«, und den Zeigefinger an die Lippen gehoben. Christian hatte das nicht vergessen. Es war ein Zitat aus dem »Rosenkavalier«, die Marschallin sang es; und Christian glaubte, daß diese Marschallin noch lebte, hier irgendwo in einem der Häuser, und von der Zeit flüsterte, sie sogar besaß wie eine Essenz und in die Uhren speiste in der langsamen, geduldigen Weise einer Spinnerin am Spinnrad, von dem ein Faden ging, die rieselnde, in den Tapeten rinnende, in den Spiegeln huschende, gesichterwebende Zeit. An einem dieser Abende bei Niklas, im Musikzimmer von Haus Abendstern, sprang die Abtastnadel des Plattenspielers immer wieder aus der Rille und in die abgelaufene Stelle zurück, Tannhäuser hob, stellte sich Christian vor, immer wieder den Arm und besang Frau Venus im Berg, an diesem Punkt kam die Nadel nicht weiter, schien an eine Barriere zu stoßen, die sie zurückwarf und stereotyp dieselbe Melodie wiederholen ließ, unterrauscht von Geigentremoli, Harfenschwimmen und dem Funkenknacken der Schallplatte, die im Dritten Reich aufgenommen worden war, Sonde in eine lang versunkene Bühne, schartig und, wie Christian manchmaldachte, wenn er neben Niklas saß und zuhörte, durchknistert von Rundfunkmeldungen über Angriffe und den Bordradaren der Bomber im Anflug auf Dresden. Aber so, wie die Nadel zurücksprang und des Sängers Ernst vervielfachte, wodurch er in eine Art Klamotte schlitterte, bevor Niklas aufstand und den Echos ein Ende setzte, Kopien über Kopien ausgeworfen in marionettenhaft zappelnder Endlosschleife: so kamen Christian auch die Tage in der Stadt vor, zum Lachen reizende Wiederholungen, ein Tag ein Spiegelbild des anderen, einer des anderen lähmende Kopie. Dann dachte er an Tonio Kröger, den Bürger aus der Stadt mit den zugigen und giebeligen Gassen, den Speichern und Kirchen, den hanseatischen Kaufleuten mit Kornblumen im Knopfloch, an deren Kontoren vorbei die Segelschiffe auf der Trave fuhren. Er wußte selbst nicht, wie er ihm in den Sinn gekommen war, beim Anblick des Hauses Delphinenort vielleicht oder in der Vorfreude auf einen Musikabend bei Niklas. Christian hatte die Novelle lange nicht mehr gelesen. Meno schätzte sie, manchmal, bei den Soiréen, wurde über Thomas Mann gesprochen. Wenn Christian durch die spärlich beleuchteten, nach Schnee und Braunkohlenasche riechenden Straßen ging, war ihm, als wäre er selbst Tonio Kröger, nicht ganz stilrein freilich, denn er war nicht der Sohn von steifleinenen Lübecker Patriziern. Er hätte wohl auch in den gotischen Gewölben der Kreuzschule ein- und ausgehen müssen. Dennoch hatte er dieses Gefühl, und je länger er ging, desto mehr schien Tonio Kröger von ihm Besitz zu ergreifen, als wäre er die geeignete Maske für hier oben, ein Schutz für etwas, das Christian nicht erkennen konnte, das die krankhafte Atmosphäre der Häuser ringsum, ihr schweigender Verfall, ihr Schlaf,

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