Der Turm
Interhotels »Königstein« und »Lilienstein« drängten. Vor dem Rundkino, das wie eine senkrecht schwarzweiß gestreifte Puderdose aussah, wartetenMenschentrauben. Meno schaute zu den Vitrinen im Umgang vor den Kinosälen: Bud Spencer spannte den Bizeps auf den Plakaten, sorgte gemütvoll für Gerechtigkeit, es lief »Plattfuß am Nil«. Die Jungs wollten es sehen, Robert hatte Meno gebeten mitzukommen, er hatte auch Ezzo und Reglinde mobilisiert, während Muriel und Fabian abwarten wollten, bis der Film in den Tannhäuser-Lichtspielen lief. Von der Kreuzkirche schlug es fünf. Meno blickte hinauf zu den Fenstern der Dresdner Edition, in einem der klobigen Häuser auf der Ostseite des Altmarkts: Beim Leitenden Lektor Josef Redlich brannte noch Licht, im Stübchen von Korrektor Oskar Klemm auch, bei Schiffner war es dunkel.
Eine 11 kam, die rotweißen, verschlammten Tatra-Wagen entließen Kinogänger und Striezelmarktbesucher, Frauen mit links und rechts geballten Einkaufstaschen, wie sie jetzt Meno schleppte. Anne trug einen Reisesack voller Kleider, die ausgebessert werden und in die chemische Reinigung mußten; es war Freitag, heute hatte das VEB Dienstleistungskombinat in der Webergasse bis 19 Uhr geöffnet; aber es blieb nur noch eine Stunde für Wochenendeinkäufe und Geschenkejagd. Anne schlug vor, daß sie sich aufteilen sollten, sie gab ihm den Reisesack, sie wollte noch nach Strümpfen für Arthur schauen, der in Glashütte in finsterer Lieferprovinz saß, und Emmy hatte sich einen Rolli-Wagen zum Einkaufen gewünscht, »und natürlich stecken wir ihr auch was zu, ihre Rente reicht ja hinten und vorne nicht, und fällt dir was für Gudrun ein? Barbara wollte ich eigentlich Handschuhe schenken, aber einmal nicht zugeschlagen im Exquisit, und weg waren sie, na, mal sehen, ob ich woanders noch welche kriege. Für Uli hab ich schon was, für Kurt auch. Die chemische Reinigung geht expreß, und wenn sie Schwierigkeiten machen: Ich bin angemeldet, Mo, die Nummer steckt mit Sicherheitsnadeln an einem von den Kleidern. Der Regenschirm muß neu bezogen werden, und die beiden Scheren brauchen einen neuen Anschliff. Wo treffen wir uns?«
»Eingang Webergasse, in einer Stunde?«
»Bis dann«, und weg war sie: Wie früher, dachte er, wie in der Kindheit, wenn wir Räuber und Gendarm spielten und sie im Wald verschwand; noch einige schwankende Zweige,stäubender Kiefernpollen, ein verschreckter Vogel; eine unsichtbare Tür hatte sich geöffnet und sie verschluckt.
Er dachte jetzt manchmal über ihre Kindheit nach, vielleicht kam er in das Alter, in dem man, erstaunt über die heimlich gegangene Zeit, zurückzuschauen beginnt und abends, allein mit Schatten, das Album aufschlägt, das voller erstarrter Gesten ist, man kann die Aromen noch spüren, die sie umgaben, gerade eben sind sie geschehen und nicht, wie das Datum unter dem Foto behauptet, an einem Tag vor zwanzig, vor dreißig Jahren, da: dieser Apfel rechts oben im Bild, kaum zu sehen, aber du weißt, daß er da ist und daß er in ein paar Minuten heruntergeholt werden wird; wie der Saft über Annes Kinn troff, als sie hineinbiß, wie Ulrich vergeblich versuchte, ihn ihr wegzunehmen, und da: Vater winkt aus dem Fenster unseres Hauses, ist es neunzehnzweiundfünfzig, wir waren noch nicht lange aus Moskau zurück, als die Friedensfahrt durch Bad Schandau kam und Menschenmengen auf der Straße an der Elbe den Radrennfahrern zujubelten, oder will er uns eine seiner Hans-Albers-Platten vorspielen, »In einer Sternennacht am Hafen«, orangefarbener Kopfstreifen, Albers mit Sherlock-Holmes-Pfeife blickt nach oben, und Vater sagt, während er die Platte aus der Hülle mit der schwarzen »Decca«-Ellipse zieht: Wußtet ihr, daß er hier, in Schandau, zum ersten Mal auf der Bühne stand, neunzehnhundertelf?
Und dann hatte Anne, er sah an manchen Abenden ihr Gesicht vor sich in diesem Moment, die gerunzelten Brauen, die weit geöffneten, erstaunten braunen Augen, den Apfel Ulrich gegeben, der darüber ebenso verwundert war wie sie, denn er hatte gezögert, den Apfel zu berühren, hatte, verlegen, auf den Baum gezeigt, wo noch mehr Äpfel hingen, dann die Hände in die Taschen gesteckt und mit der Schuhspitze Muster in den Sand gescharrt … Anne: Kannst ihn haben, wenn du magst – doch in diesem Moment, mit der Abruptheit eines zustoßenden Raubvogels, schnellte Ulrichs Hand aus der Tasche und griff die Frucht, ließ Anne fassungslos zurück, als hätte diese Geste
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