Der Turm
sie wie ein scharfes Schwert zerschnitten, und nichts konnte sie rückgängig machen; Ulrich rannte mit Triumphgeschrei davon.
Im VEB Dienstleistungskombinat in der Webergasse reihte sich Meno in die Warteschlange, beobachtete das Hantieren derAngestellten, die sich mit fließender Langsamkeit bewegten und wenn sie sprachen jede Silbe betonten. Unter einem Transparent »Mit jeder Mark, jeder Minute, jedem Gramm Material einen höheren Nutzeffekt« plusterten sich Oberhemden auf Trocknerpuppen, blähten sich wie die Wangen von Jazztrompetern, reckten dralle Wurstärmel. Es schienen nicht alle Trocknerpuppen zu funktionieren, denn hin und wieder pfiff Luft aus, die Hemden spuckten die Abdichtklammern weg und gaben grunzend den Geist auf.
Nachdem Meno an der Reihe gewesen war, setzte er sich in den Wartebereich des PGH »Neue Linie«-Friseurs, der sich auf der gleichen Etage wie die chemische Reinigung befand. Annes Hemden würden in einer halben Stunde fertig sein.
Manchmal dachte er jetzt an die Moskauer Zeit zurück. Er erinnerte sich an die 800. Wiederkehr des Gründungstags von Moskau, im Herbst 1947. Er war ein Junge von sieben Jahren gewesen, Anne gerade zwei Jahre alt, Ulrich neun. Ein dunkler, unaufgeräumter Himmel über den festlich gekleideten Menschen; in den Parks spielten Blasorchester, Zuckerwatteverkäufer und Militärkapellen warteten in den Alleen.
Vor dem Kindergarten »Krasnaja Zwesdotschka« parkten die schwarzen Limousinen, mit denen die Kreml-Kinder gebracht und abgeholt wurden; die Chauffeure rauchten, warteten.
Mädchen in Schuluniformen mit weißen Schürzen trippelten vorbei, schnatterten aufgeregt, in den Händen hielten sie Fähnchen, bogen in die »Straße der Bestarbeiter«, wändehohe Plakate lächelten auf die Demonstrationszüge herab. Helden des Großen Vaterländischen Krieges, Helden der Arbeit, der Sowjetunion. Die Mädchen hatten erst nachmittags Unterricht, in der zweiten Schicht. Aus den Schulen strömten die Schüler der ersten Schicht, die neun Uhr dreißig begann. Trolleybusse, Straßenbahnen, blumengeschmückte Losungswagen, die schweren Pobeda- und SIS-Limousinen rollten vom Arbat, aus den Lautsprechern schepperten Bravourmärsche, überall wehten rote Fahnen. Vom »menschlichsten Menschen« schaukelten Porträts über Moskau, befestigt an Luftballons. Lieder, Meno erinnerte sich, Bruchstücke von Verszeilen trieben auf, er murmelte die russischen Worte: »Stalin ist ein Held und Muster für die Kinder, / Stalin ist derJugend bester Freund«; »Unser Zug eilt dahin / und hält im Kommunismus an« … die verhungerten Gesichter der Menschen, dachte Meno, Vaters ausgemergelte Hand, die meine hält, ich frage nach Mutter, und er antwortet mir, wie seit einigen Monaten, Luise sei im Ausland, sie lasse uns Kinder grüßen und wolle, daß wir fleißig in der Schule seien. Eines Tages nimmt er Ulrich mit ins Gefängnis. Vater wartet, bis sein Buchstabe aufgerufen wird. Er geht an einen Schalter, um Geld einzuzahlen. Wenn der Beamte das Geld annimmt, ist Mutter am Leben.
14.
Josta
Richard stellte den Lada beim »Haus der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft« am Puschkin-Platz ab und beschloß zu laufen. Die Leipziger Straße war abendlich belebt, die Laternen streuten müdes Licht auf den Verkehr. Eine Hechtbahn der Linie 4 ratterte in Richtung Radebeul vorüber, schlenkerte in den Gleisen, Richard sah, wie die Fahrgast-Traube an den Halteschlaufen hin- und herschwankte. Er überquerte die Straße und ging so langsam und gedankenversunken, daß ein militärgrüner Wolga hielt und ein russischer Offizier, Chauffeur einer höheren Charge, deren Handschuhe Richard im Wageninneren ungehalten gestikulieren sah, den Kopf zum Fenster hinaussteckte und ihm ein rauhes, aber nicht unfreundlich klingendes »Nu, Dawai!« zurief. Richard wich aus, der Wolga, ein breiter Stahlkasten, schlingerte im Schneematsch davon.
Vom Paul-Gruner-Stadion wehten Rufe, heute spielten Feldhandballmannschaften, es existierte noch eine Liga, vorwiegend aus Arbeitern und Angestellten städtischer Betriebe, Robotron, Pentacon, Sachsenwerk. Längst hatte der Hallenhandball den Feldhandball verdrängt, aber hier, in der Vorstadt, gab es ihn noch. Richard kannte die Umkleidekabinen im Paul-Gruner-Stadion, die Fotografien ehemaliger Sportheroen: der Dresdner Fußballer Richard Hofmann, wegen seines Schusses »der Bomber« genannt; die deutsche und die ungarische Nationalmannschaft von 1954 mit Signaturen;
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