Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Turm

Der Turm

Titel: Der Turm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
Vom Netzwerk:
auf dem Bürgersteig liegenden Hundehaufen ausgewichen. Er kam am Faunpalast vorbei und erinnerte sich an manchen Film, den er in dem Kino, das früher ein Tanz-Etablissement und Versammlungsort der Arbeiter gewesen war, gesehenhatte. Ein verwinkelter Bau mit abgeschabten Polsterstühlen; im Vestibül verstaubten Scherenschnitte von Hans Moser, Vilma Degischer, Anny Ondra und manch anderem UFA- oder Wien-Film-Star. Signierte Porträts von DEFA-Schauspielern hingen gerahmt an den Seiten des hölzernen Kassenverschlags, der mit seiner in den Raum vorbugenden Front und den abgerundeten, messingbeschlagenen Ecken wie ein gestrandeter Orientexpreß-Waggon wirkte. Auf dem Pfeiler der breiten, mit einem fadenscheinig gewordenen Spannteppich belegten Salontreppe stand eine Schlangenpflanze, die irgendein verschollener Betreiber des Kinos aus den Tropen mitgebracht hatte. Richard nannte sie so, weil sie weißgrün gefleckte Blätter besaß, die wie ein Bündel schlummernder Nattern aus dem Kübel hingen. Er nahm sich vor, Meno bei Gelegenheit nach dem genauen Namen der Pflanze zu fragen. Er sah die langen Wartereihen vor der Schwingtür des Kinos, das webelnde, grünliche Licht in den Schaukästen mit den Filmplakaten des Progress-Filmverleihs: ein Mann mit Trenchcoat und aufgeschlagenem Kragen, hinter ihm stach der Turm der Lomonossow-Universität mit dem roten Stern auf der Spitze in den Moskauer Abendhimmel, und dem Mann gegenüber stand eine Frau, die ihn mit weitgeöffneten, zugleich enttäuscht, noch liebend und schon abschiednehmend wirkenden Augen betrachtete. Sie ähnelte Anne, Richard wandte den Kopf. Traurigkeit, Wehmut erfaßte ihn, das Lächeln Riekes, die vor wenigen Minuten aufgeblitzte heitere Stimmung war verflogen, so gründlich, als hätte es sie nie gegeben. Er versuchte zu verdrängen, aber es wollte ihm nicht gelingen. Anne, dachte er. Fünfzig Jahre, dachte er. Medizinalrat bist du geworden, genau wie Manfred es prophezeit hat auf der Geburtstagsfeier; Ansprache, Dank im Namen des Volkes undsoweiter, Urkunde auf, Urkunde zu, Händedruck, Beifall, Dankesrede, klippklapp wie im Affentheater. Und Pahl in Friedrichstadt hat richtig den Fetscherpreis bekommen … ein guter Chirurg, man sollte es ihm endlich sagen, in unserem Alter sollten Eitelkeiten keinen Wert mehr haben. Fünfzig Jahre, dachte er, und Erinnerungen. Du bist voller Erinnerungen, aber wohin ist die Jugend? Das Lachen, der Überschwang, die bäumeausreißende Energie –? Der Wind, der Wind geht durch dein Haar. Er hatte das vor kurzemirgendwo gelesen, in einer Zeitschrift wahrscheinlich, wie sie die Schwestern während des Nachtdiensts lasen; vielleicht war es eine Zeile aus einem Schlager, einem dieser ganz und gar billigen Lieder, wie sie im »Kessel Buntes« oder im »Wunschbriefkasten« gespielt wurden – und die er nicht ohne Widerwillen und Abscheu anhören konnte. Manchmal waren es aber gerade diese einfachen, rührseligen und oft nur allzu berechnend naiven Weisen, die ein Wort wie dieses enthielten, eine einzige, aus der übrigen Zubereitung gefallene Zeile, die einen Nerv auch bei ihm traf, den viele der ernsthaften, komplexen und harmonisch ungleich reicheren Partituren in den Konzertsälen verfehlten, so daß man kalt blieb. Sie tönten, aber sie drangen nicht durch die siebente Haut des Herzens vor bis ins Innerste … Dort, wo das Geheimnis war, unerforschlich allen, selbst dem nächsten Menschen.

    Josta umarmte ihn, küßte ihn, kaum daß er eine Sekunde geklingelt hatte. »Du kommst spät!«
    »Laß die Vorwürfe.«
    Sie packte ihn an den Schultern, und wie so oft erstaunte ihn die Unverstelltheit der Emotionen, die man auf ihrem Gesicht lesen konnte. Verletztheit, Stolz, Zorn, Abwehr und der Jagdtrieb einer hungrigen Kätzin überflogen in wechselnder Röte ihre Haut, die braun wie die einer Südländerin war, die Schwarzkirsch-Augen. »Ah, Graf Danilo ist wieder mal schlecht gelaunt! Er steigt die Treppen zu seiner Geliebten hinauf, und die alte Vettel Freese hat ihn durch ihren Spion gesehen! Im Hausflur riecht es nach nasser Wäsche und –«
    »Hör auf damit!« unterbrach er unwirsch. »Und laß diesen dummen Spitznamen, ich bin kein Graf Danilo!«
    »So, was bist du dann? Mein kleiner verwöhnter Liebling!« Josta legte den Kopf zurück und lachte, daß er die einsame Amalgam-Füllung in der Reihe ihrer Zähne sah, nahm seine Hände und trat einen Schritt zurück.
    »Deine Augen, du … Hexe!«
    »Ich seh’s!« rief

Weitere Kostenlose Bücher