Der Turm
Töppen, wie man hier dieFußballschuhe nannte, von Mitgliedern des 1. FC »Dynamo Dresden«, die hier in Jugendmannschaften gespielt hatten. Wind frischte auf, trug Gerüche heran: Brackig roch es vom nahen Pieschener Hafen, von den Elb-Altarmen, in denen das Flußwasser träge stand und selbst in strengen Wintern nur mürbes Eis bildete. Süßlich und widerlich mischte sich der Abdunst vom Schlachthof, am anderen Elbufer, im Ostragehege, in den Flußgeruch, dann drehte der Wind und trug die Gerüche der Vorstadt heran: Autoabgase, Metall, den säuerlichen Schornsteinrauch schlecht verbrennender Braunkohle. Es dämmerte schnell. Wie rasch die Tage vergehen! dachte Richard. In der Dunkelheit geht man aus dem Haus, in der Dunkelheit kehrt man zurück. Und er dachte daran, daß er nun fünfzig Jahre alt und dies etwas Unbegreifliches war, denn jener Tag, an dem er im Garten des Vaters ein Vogelnest gefunden und sich erstaunt über die grünen, rostrot gesprenkelten Eier gebeugt hatte, schien doch nicht lange zurückzuliegen, und es waren doch vierzig Jahre. Er beobachtete die Menschen. Wie sie dahintrieben in der Dämmerung, in graue oder braune Mäntel gekleidet, nur hin und wieder etwas Farbe, Blaßblau, Beige, vorsichtiges Rosa, und jeder in Gedanken und Geschäften, niemand mit erhobenem Kopf, den Blick offen einem anderen Menschen zugewandt: all das erfüllte ihn mit Traurigkeit, einem Gefühl von Unentrinnbarkeit und Hoffnungslosigkeit. Fünfzig Jahre – und erst gestern das erste Mädchen geküßt! Sie war älter gewesen als er, neunzehn oder zwanzig, fast schon eine Frau, hatte er mit seinen zwölf Jahren empfunden, als er mit der Phosphorbrandverletzung im Krankenhaus gelegen hatte. Rieke hatte sie geheißen, eine stille Handelsschulabsolventin, die im Krankenhaus Pflegedienst leistete, ihre Firma war beim Bombenangriff vollständig vernichtet worden. Was für schönes Haar sie gehabt hatte: Dunkelblond mit einzelnen helleren Strähnen darin; manchmal, wenn er Christian ansah oder mit der Hand über seinen Kopf strich, mußte er an Rieke denken – und sich vor einem Lächeln hüten, das niemand außer ihm verstand und dessen Erklärung mit Verstimmung enden würde. Wie leicht und zärtlich die Berührung seiner Haut gewesen war, wenn sie Brandsalbe aufgetragen oder seinen Rücken mit Franzbranntwein überrieben hatte, wobei erihren Atem spürte, wenn sie vornübergebeugt hinter ihm auf dem Bett saß, eine vorwitzige Strähne ihres Haars, die sie in regelmäßigen Abständen zurückpustete. Sie beugte sich zurück, bevor das, was in ihm erwachte und die Ahnung von etwas bisher nicht Gekanntem, Pochendem, Verbotenem gab, nicht mehr für einen Zufall, einen beiläufigen, bei dieser Art von Behandlung immer wieder vorkommenden Kontakt gehalten werden konnte. Eines Abends, als sie allein gewesen waren, dauerte es zu lange für seine Sinne, aufgestellte, überscharfe Antennen, er drehte sich um, er wußte selbst nicht, was er da tat und warum, und woher er den Mut dazu nahm, nur, daß etwas ihn trieb über die Angst und seinen stolpernden Puls hinaus, ihr verdutztes Gesicht in beide Hände zu nehmen und sie auf die Lippen zu küssen. Sie war nicht zurückgewichen, hatte ihn nicht geohrfeigt. Danach saß sie schweigend, sah ihn an, begann zu lächeln und wischte sich mit einer scheuen, ihn sonderbar erregenden Bewegung das verrutschte Haar zurück. »Na, du fängst ja früh an«, hatte sie gemurmelt, und er dachte: Was kommt jetzt? und ein Rausch aus Bruchstücken erschlichener Lektüren, Andeutungen und Zoten von älteren Flakhelfern, obszönen Bildern in einschlägigen Heften überschwemmte seine Gedanken. Dann war etwas in ihren Augen erschienen, das er nicht kannte, eine Art von zärtlichem und respektvollem Spott; sie hatte seine Schlafanzughose gelüpft: »Du bist mir einer. Erst zwölf, und schon hat’s Konsequenzen.« Er sagte nichts, sie lachte leise. »Komm später wieder, jetzt mußt du noch ein bißchen auf die Weide.« Damals hatte es ihn beleidigt, er konnte sich an das dumpfe, dunkle Gefühl der Scham, der mit Empörung gemischten Trauer noch genau erinnern; jetzt mußte Richard lachen. Danke, Rieke, du zärtliche, junge, nach Franzbranntwein und Kernseife riechende Frau! Sag, ist es dir gut ergangen? Möge es dir gut ergangen sein – ich begehre dich noch immer! Richard machte einen kleinen Sprung und tat, als ihn ein entgegenkommender Passant erstaunt musterte, als wäre er noch rechtzeitig einem
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