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Der Turm

Der Turm

Titel: Der Turm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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Kehlen und Schluckreiz von diesen Nebeln, dann Husten und gerötete Augen. Dr. Frank, der auch Chemie unterrichtete, wußte, woher die Nebel kamen.
    An einem Dienstag Ende März gingen die Geschichtsarbeiten an die 11/2 zurück. Herr Schnürchel mäanderte durch die Klasse, teilte die Papiere aus, gab knappe Kommentare: »Swetlana, sauberer Klassenstandpunkt, sehr gute Ableitung, Eins«; »Siegbert, das Gothaer Programm mit dem Anti-Dühring verwechselt, noch Drei«; »Christian«, und Schnürchels Augen hefteten sich auf ihn, so daß er das Gefühl hatte, von Schnürchels Schneidbrennerblick aufgetrennt zu werden, »– zu viele Phrasen, aber den Marxschen Geschichtsbegriff gut herausgearbeitet, Zwei minus«, dann setzte er sich, flocht die Finger ineinander und betrachtete das übriggebliebene Blatt. Christian sah aus dem Fenster, um Schnürchels Profil im Sichtfeld zu haben und gleichzeitig Blickkontakt zu vermeiden; Heike Fieber spielte mit ihremwuscheligen Haar, Reina Kossmann hatte die Hände auf den Tisch gelegt, hielt die Schultern hochgezogen, ihr Gesicht und Verenas zwei helle Flecken im Licht, das von den Neonröhren klumpte zu dieser noch dunstigen Morgenstunde, die wahrscheinlich zu einem sonnigen Tag aufklaren würde. Schnürchels Stimme zuckte auf und schien Verena körperlich zu treffen, sanft wie eine Eidechsenzunge: »Warum haben Sie mir nicht gesagt, daß Sie sich unwohl gefühlt haben?«
    »Ich … habe mich nicht unwohl gefühlt.«
    »Nein.« Schnürchel nickte, als hätte er diese Antwort erwartet, aber weder Befriedigung noch Ärger konnte Christian auf seinem Gesicht erkennen. »Wenn es etwas gibt, das Sie mir sagen müssen –«
    Die ganze Klasse schien sich um Verenas Platz zu ballen, ein Chor aus intensivem Schweigen, der Was wird passieren? nicht auszusprechen wagte, geduckt jetzt in Erwartung eines Schlages, angespannt, um ihm die Wucht zu nehmen. Christian hörte plötzlich Onkel Niklas’ Stimme: Alles muß man sich leisten können, in diesem Land, sah ihn, wie er sich bedächtig umwandte im Musikzimmer des Hauses Abendstern, und am Kaffee nippte. Das Wort blieb hängen, arbeitete weiter, kam als greller, böser Gedanke wieder, der sich festnistete, als Verenas Gesicht keine Unruhe zeigte, nur bleicher war als sonst, was auch am Neonlicht liegen konnte; ihr Kohlenblick wach, beinahe kalt, in dem von Schnürchel. Konnte sie es sich leisten? Nein, das war absurd. Dann wäre ihr Verhalten einer Aufdeckung gleichgekommen, und daran konnten Jene kein Interesse haben, ebensowenig wie an Dummheit. Beteiligte Schüler hatten angeblich gewisse Lücken oder Ungereimtheiten in ihrer Klassenbuch-Spalte. Die Berufe der Eltern waren nicht eingetragen, wenn sie zu Jenen gehörten, oder es stand überhaupt nur der blanke Name da. Bei Verena war das nicht so. Vater: Johannes Winkler, Arzt, Kreisklinik Waldbrunn, Mutter: Katharina Winkler, Kantorin an der evangelischen Kirche Waldbrunn, Geschwister: Sabine, Mitarbeiterin an der Kreisbibliothek.
    Verena eine Informantin … Sein Blick suchte ihren, er mußte sie entsetzt angesehen haben, ihre Augen glitten ab.
    »Vielleicht wollen Sie es mir nachher sagen.« Schnürchel sprachnun bestimmt und abschließend. Seine Ringelsocken, dachte Christian, die übereinandergelegten Füße – gar nicht komisch. »Ich habe mich nicht unwohl gefühlt.« Verenas Stimme war schartig, sie mußte sich räuspern.
    »Verena.« Diesmal antwortete Schnürchel schnell, Christian spürte die Überraschung in der Klasse bei diesem Ton verhaltener Wärme. »Dann muß ich eine FDJ-Leitungssitzung einberufen und den Klassenlehrer informieren.« Verena schwieg, und Christian verstand sie nicht, wandte den Kopf zur Tür und flüsterte »Warum, warum?« mit einer nutzlosen Intensität. Das Mißtrauen stach wieder auf, und er glaubte es auch auf Jens Ansorges Zügen lesen zu können, auf Siegbert Fügers dünnem Lächeln, Reina Kossmanns jetzt kalkweißem Gesicht.
    Die FDJ-Leitungssitzung wurde für fünfzehn Uhr, nach der letzten Unterrichtsstunde, anberaumt, im Russischzimmer unter Sputnik- und Pionierlager Artek-Wandtafeln, Patenbriefen der befreundeten Komsomol-Organisation und einer Maxim-Gorki-Büste aus Gips. Der Rest der Klasse wartete draußen.
    Tagesordnung, Schriftführung – Falk Truschler nahm Stift und Papier –, Dr. Franks sommersprossige Hand, die sich öffnete und schloß. »Bitte.« Er nickte Verena zu, die zur Seite starrte, vor sich das weiße Blatt mit ihrem Namen

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