Der überflüssige Mensch: Unruhe bewahren (German Edition)
oder gar zu überwinden, eine imperiale Politik des Genozids durch Unterlassung, die auch im 19. Jahrhundert Nachahmer fand.
Überbevölkerung war somit zunächst ein europäisches Problem, was uns in Mitteleuropa ironisch erscheinen mag, da wir dieser Tage eher mit Hiobsbotschaften unseres drohenden Aussterbens konfrontiert werden. Als sich die Industrialisierung allmählich durchsetzte, trat Thomas Robert Malthus, britischer Nationalökonom und Sozialphilosoph, auf den Plan und entwickelte sein Bevölkerungsgesetz, das in der berühmten Quintessenz kulminierte: »Ein Mensch, der in einer schon okkupierten Welt geboren wird, wenn seine Familie nicht die Mittel hat, ihn zu ernähren, oder wenn die Gesellschaft seine Arbeit nicht nötig hat, dieser Mensch hat nicht das mindeste Recht, irgend einen Teil von Nahrung zu verlangen, und er ist wirklich zu viel auf der Erde. Bei dem großen Gastmahle der Natur ist durchaus kein Gedecke für ihn gelegt. Die Natur gebietet ihm abzutreten, und sie säumt nicht, selbst diesen Befehl zur Ausführung zu bringen.« Mit anderen Worten: die Nahrungsmittelproduktion kann quantitativ nicht mit dem Populationswachstum mithalten, denn »der allgütige Schöpfer (…) hat uns in seiner Gnade nicht alle lebensnotwendigen Dinge in ausreichender Menge zur Verfügung stellen wollen«. Abgesehen von der Frage, wieso ein so schlecht vorausplanender Schöpfer allgütig und gnädig sein soll, irritiert an dieser These vor allem die Behauptung der Unausweichlichkeit: Der Hungertod als Allheilmittel bei wirtschaftlichen Engpässen. Ein Teil der Bevölkerung muss zum Wohl der Mehrheit geopfert werden so wie die Schwächeren auf dem Floß der Méduse? Soziale Versuche, solche Entwicklungen zu mildern, wären folgerichtig auf das Schärfste abzulehnen. »Wenn ein Mann von seiner Arbeit nicht leben kann, so ist das für ihn und seine Familie eben nicht zu ändern. (…) Sozialgesetze sind schädlich … Sie ermöglichen den Armen, Kinder in die Welt zu setzen.« Und das gilt es unbedingt zu vermeiden, denn die Armen reproduzieren ungebremst – dieser Mythos ist ein selbstgefälliges Evergreen der oberen Schichten – ihre Unbildung, ihre Vulgarität, ihre Primitivität, ihre Hässlichkeit.
Wenig überraschend, dass die Thesen von Thomas Robert Malthus heute, da die Globalisierung als Endresultat der Kolonialisierung alle migratorischen Überlaufbecken gefüllt hat und Modernität kein regionales Privileg, sondern universeller Zustand ist, eine bemerkenswerte Renaissance erfahren. Was könnte künftig als Ventil für den Dampf des Bevölkerungsüberdrucks dienen? Das herauszufinden gilt den Eliten als vordergründige Aufgabe. Diese vermeintlich offene und unschuldige Diskussion erlaubt es, »unangenehme Fragen« zu stellen und gleichzeitig auf der Rhetorik der Menschenrechte, der Erhabenheit der eigenen Aufgeklärtheit und der Humanität der eigenen Bestrebungen zu beharren. Hungersnöte und andere soziale Katastrophen erweisen sich nicht als Malaise des Systems oder als Auswüchse der eigenen Prioritäten, sondern als Naturgesetze beziehungsweise Folgen einer übermäßigen Zeugungsfähigkeit der Armen. Wer von uns hätte nicht schon einmal den beiläufig geäußerten Satz vernommen: »Die Afrikaner (oder die Inder oder die Roma usw.) setzen zu viele Kinder in die Welt.« Malthus ist der große Befreier, nicht nur vom schlechten Gewissen, wie Jean Ziegler schreibt, sondern von der Einsicht in die eigene Verantwortung oder gar Mitschuld.
Nach Schätzungen der FAO (der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen) sterben jährlich achtzehn Millionen Menschen an Unterernährung. Zwar ist die Zahl der hungernden Menschen prozentual zurückgegangen, von 26 Prozent in der Periode von 1969 bis 1971 auf 13 Prozent in den Jahren zwischen 2005 und 2007, vor allem dank der »grünen Revolution«, einem Effizienzschub in der industriellen Landwirtschaft, trotzdem: Alle fünf Sekunden verhungert ein Kind unter zehn Jahren; jedes Jahr bringen unzählige unterernährte Mütter unterernährte Kinder zur Welt. Etwa eine Milliarde Menschen leiden an Hunger. Der einzige selbstbestimmte Ausweg ist für viele der Selbstmord – 2009 haben sich 17368 indische Kleinbauern umgebracht. 2010 waren es laut der medizinischen Fachzeitschrift The Lancet an die 19000. Seit 1995 haben sich allein in Indien insgesamt rund 270000 Menschen aus Verzweiflung über die herrschenden Verhältnisse das Leben
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