Der Überläufer: Tweed 3
ihn. Tweed richtete vor dem Spiegel seine Krawatte und machte von dort aus seine Bemerkung.
»In England nennen wir das Carmine.«
»Carmine?«
»Karminrot also. Ein kräftiges Rot.«
»Möglicherweise von einer Rothaarigen, die sehr weiße Haut hat.«
Er schwieg, starrte in den Spiegel. Wieviel sollte er ihr sagen?
Harry Butlers Kommentar bezüglich der Notwendigkeit der Geheimhaltung hatte sich in seinem Gedächtnis festgesetzt – eine dieser ärgerlichen Bemerkungen, die einen veranlassen, an der eigenen Urteilsfähigkeit zu zweifeln. Er beschloß aufzuhören, sich Fragen zu stellen, und seinem Instinkt zu folgen.
»Ingrid, es ist fast sicher, daß dieser Lippenstift einer Frau gehört, die eine Mörderin ist – oder die Komplizin eines Mörders. Und beide sind Profis. Der wirkliche Name der Frau ist Magda Rupescu, und der Mann heißt Oleg Poluschkin.«
Er beschrieb ihr beide, so gut er konnte, und sie hörte mit zur Seite gelegtem Kopf zu. Dabei starrte sie den Lippenstift an, als wäre er plötzlich zu etwas Bösem geworden.
»Die Farbe ist ungewöhnlich«, sagte sie langsam. »Auch eine Frau mit kastanienbraunem Haar könnte ihn verwenden. Helene Stilmar hat solches Haar. Ich werde genau auf ihren Lippenstift achten, wenn ich sie das nächste Mal sehe.«
»Was vermutlich schon beim Frühstück der Fall sein kann.«
»Also«, sie erhob sich, »soll ich jetzt wohl zum Frühstück hinuntergehen? Hier ist der Lippenstift.«
»Das sollten Sie, glaube ich«, stimmte Tweed ihr bei. »Aber seien Sie vorsichtig. Einer von Gunnar Hornbergs besten Leuten wurde heute früh am Morgen mitten in Stockholm umgebracht. Die Sache wird langsam gefährlich. Sie gehen kein Risiko ein! Das ist ein Befehl. Eine rothaarige Frau. Halten Sie Ausschau nach ihr.«
»Oder sogar mit kastanienbraunem Haar? Vielleicht?«
Ingrid betrat den Frühstücksraum – der am Abend das französische Restaurant ist – und verlangsamte den Schritt. Am Büffet versorgte sich Helene Stilmar mit Brot, Gebäck und allem, was dazugehört.
Die Stilmar trug einen dunkelblauen Hosenanzug und dazu eine cremefarbene Bluse mit einer Wollschleife unterm Hals. Der normale Vorgang war, sich einen Platz zu suchen und der Kellnerin zu sagen, ob man Tee oder Kaffee wollte. Danach begab man sich in dem riesigen Raum nach hinten und bediente sich am Büffet.
Ingrid machte es umgekehrt. Lässig schritt sie – ganz gegen ihre sonstige Hast – zum Büffet. Die Stilmar verließ soeben das Büffet, in jeder Hand einen Teller. Ingrid runzelte nachdenklich die Stirn.
Sie nahm zwei gebräunte Semmeln, dazu eine Scheibe Butter und einen runden, flachen Becher dunkler Johannisbeermarmelade.
Langsam ging sie in den vorderen Teil des Saales, durch dessen große Fenster man auf das Ufer und die vertäuten weißen Boote hinaussah, und blieb neuerlich stehen.
Helene saß allein an einem Tisch am Fenster. Ingrid wählte einen Tisch nahe dem Büffet, von dem aus sie ihr Objekt im Auge hatte.
Sie holte eine dunkelgetönte Brille aus ihrer Handtasche, setzte sie auf und nahm einen Schluck von ihrem schwarzen Tee.
Bevor sie die Brille aufsetzte, hatte sie Helenes Lippenstiftfarbe geprüft. Es war ein helles Rosa – meilenweit entfernt von der Farbe des Lippenstifts, den Tweed ihr gezeigt hatte. Wie hieß die Farbe? Carmine! Bewiesen war damit gar nichts, weder das eine noch das andere.
Sie selbst gehörte zu den Frauen, die ihren Lippenstift der Kleidung und der Tageszeit anpaßten. Ein starkes Rot für den Abend.
Und Tweed hatte den Lippenstift auf der Drottninggatan am frühen Morgen gefunden.
Während Ingrid Butter und eine dünne Schicht Marmelade auf ihr Brötchen strich, runzelte sie erneut die Stirn. Etwas störte sie.
Verdammt wollte sie sein, wenn sie wüßte, was es war. Sie schaute wieder zu der Frau hin, die mit geistesabwesendem Blick aus dem Fenster schaute.
Sehr schick. Sehr amerikanisch die Kleidung. Ihr Make-up war ein Kunstwerk. Fünfzehn Minuten vor dem Ankleidetisch, bevor die Außenwelt sie sehen durfte. Ingrid erledigte das in dreißig Sekunden. Und in zwei Minuten schaffte sie eine totale Verwandlung ihres Aussehens. Die Stilmar brauchte dreißig Minuten, um zu baden und sich neu anzukleiden.
Eine Viertelstunde darauf verließ die große, elegante Frau im Hosenanzug den Frühstücksraum. Sie ging an Ingrids Tisch vorüber, ohne ihr einen Blick zuzuwerfen. Eine Welle von Parfümduft wehte in Ingrids Nasenlöcher, und sie erkannte die
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