Der Überläufer: Tweed 3
kurze Fahrstrecke, und er entschädigte den Fahrer durch ein großzügiges Trinkgeld, das dieser wortlos einsteckte.
Mit schwerfälligen Schritten bewegte er sich auf der Straße fort, blieb wieder stehen, aber nichts deutete darauf hin, daß ein Fußgänger oder ein Fahrzeug ihm folgten. Er ging ins Restaurant
Aux Pyramides
hinein, bestellte sich am Tresen einen Pernod und bat, telefonieren zu dürfen. Es war sein zweiter Anruf in Paris, es war dieselbe Nummer, und diesmal traf er eine Verabredung, nachdem er auf seine Uhr geschaut hatte. Pro forma nippte er an seinem Pernod und ging, das Glas nahezu voll zurücklassend.
Vom zweiten Taxifahrer ließ er sich vor der Metrostation »Bastille« absetzen. Er ging nun wieder zu Fuß, ein kleiner, ganz gewöhnlich aussehender Herr ohne Hut, mit raschen Schritten die Rue St.-Antoine hinunter und dann rechts durch eine Seitenstraße zur berühmten, einstmals eleganten Place des Vosges. Der Platz, noch vor wenigen Jahren Wohnviertel der Superreichen, versetzte ihm einen Schock.
Die Fenster der Luxusappartements über den Arkaden waren mit Rolläden verschlossen, dahinter schien niemand zu wohnen. Die Reichen sind mobil. Sie hatten vor Mitterand die Flucht ergriffen und wohnten jetzt in New York oder in der Schweiz. Die Tresore der Banken in Basel waren bis obenhin voll mit Billionen französischer Francs, von jenen übervorsichtigen noch am Abend desselben Tages außer Landes gebracht, an dem bei der Präsidentenwahl Giscard von Mitterand geschlagen worden war.
Ihre Abwesenheit merkte man sogar im
La Chope,
dem Restaurant, zu dem Tweed seine Schritte lenkte. Immer noch standen die Tische vor dem Restaurant auf dem Gehsteig in der Nordostecke des großen Platzes, aber der Kundenkreis war ein anderer. Tweed nahm es mit einem Blick in sich auf.
Die schickgekleideten Frauen, Kundinnen der führenden Couturiers von Paris, ihre Freunde, die riesige Vermögen geerbt hatten, der Neureiche und seine Frau, die normalerweise kein Wort miteinander redeten – wo waren sie alle? Fort.
Die Leute, die jetzt hier aßen und tranken, gehörten der unteren Mittelklasse oder der gehobenen Unterschicht an (Tweed hätte nicht zu sagen gewußt, wo die eine endete und die andere anfing).
Er schaute auf die Uhr. Es war genau 19.30 Uhr. An einem Tisch für zwei Personen in der Ecke saß ein Mann mit Hängebauch, etwa fünfzig Jahre alt. Mit enttäuschter Miene blickte Tweed im Kreis auf die vollbesetzten Tische.
»Entschuldigen Sie«, sagte er auf französisch, »darf ich mich hierhersetzen? Scheint nicht viel Platz zu sein heute abend.«
»Nehmen Sie nur Platz«, lud André Moutet ihn ein.
Die Sonne warf ihre Strahlen schräg über die Dächer auf der gegenüberliegenden Seite des Platzes. Tweed beschattete seine Augen gegen das grelle Licht und drehte seinen Stuhl näher dem Mann zu, als der Kellner ihm die Speisekarte offerierte.
»Sie haben noch Rindfleisch?« wollte Tweed wissen.
»Natürlich, Monsieur. Etwas zu trinken?«
Tweed bestellte eine Karaffe Wein, Hausmarke, und sie waren wieder allein. Moutet hatte noch mehr Gewicht zugelegt. Als Tweed ihm zusah, wie er Kartoffeln in seine riesige Mundhöhle schaufelte, wußte er warum. Ein braver Esser, dieser André Moutet. Sie begannen sich in leisem Ton zu unterhalten. Nicht daß Tweed Sorge gehabt hätte, man könnte ihnen zuhören – die anderen Esser waren ganz mit sich selbst und dem, was auf ihren Tellern und in ihren Flaschen war, beschäftigt.
André Moutet war Schwergewicht in jeder Region seiner ausladenden Anatomie. Das schwarze Haar auf seinem riesigen Schädel trug er im Bürstenschnitt, vom Unterkiefer hing ein mächtiges Doppelkinn, und die vollen Lippen waren täuschend weich und schlaff. Offiziell war seine Profession die des Buchmachers, eine Beschäftigung, die es ihm erlaubte, sich unentdeckt in den niedersten Regionen des Großstadtdschungels zu bewegen. Nur vereinzelt ergab sich die Gelegenheit, mit Leuten, die gut bei Kasse waren und riesige Summen in Longchamps verwetteten, kurz ins Gespräch zu kommen. Zu seinen Kundschaften zählte er auch gewisse
Comtes,
um nicht zu sagen
Comtessen.
»Comtessen«, hatte er einmal Tweed anvertraut, »sind überhaupt die Ärgsten. Wenn sie aus ihren Ehemännern nichts mehr rausholen, dann verdienen sie sich die Scheine, die sie brauchen – natürlich nur, weil sie ihre riesigen Verluste wettmachen müssen –, dadurch, daß sie sich an etwas exklusivere Salons verdingen. Sie
Weitere Kostenlose Bücher