Der übersehene Mann: Roman
seines Lebens verbessert und der Erwachsene im Stuhl vor ihm war mitfühlender, aber im Kern hatte er sich nicht verändert. Er war immer noch der furchtsame, einsame Junge, der er einmal gewesen war, und der sich nach der Mutter sehnte, die nie kam. Er war immer noch hilflos und allein.
»Ich habs satt, allein zu sein«, sagte er und starrte zu Boden. »Ich habs einfach satt.«
»Unsinn! Sie sind ein junger Mann. Denken Sie positiv, die besten Jahre des Lebens liegen noch vor Ihnen. Sie brauchen einfach mehr Selbstvertrauen.«
Der Arzt beugte sich über den Tisch und faltete die Hände, als wollte er beten.
»James, ich weiß, dass Sie es nicht leicht hatten, aber Sie sind ein guter Mann und wären ein echter Schatz für eine Frau. Aber Sie müssen die Pillen nehmen. Sie sehen doch, was passiert, wenn sie sie weglassen. Sie verlieren den Glauben an sich, und das ist nicht gut. Verstehen Sie, was ich Ihnen zu sagen versuche, James?«
»Ja, Doktor.« Jamie fühlte sich schon besser. Er erinnerte sich daran, dass die weisen Worte des Arztes ihm über manche schlechte Episode weggeholfen hatten.
»Depression ist nichts, wofür man sich schämen müsste«, fuhr Dr. Brewster fort. »Irgendwann erwischt es jeden, mal mehr, mal weniger. Das Leben ist nicht leicht. Gott weiß, wenn es so wäre, dann bräuchte man Menschen wie mich nicht, und zum Glück gibt es Medikamente, die uns über die schweren Zeiten hinweghelfen.«
Er griff nach dem Rezeptblock.
»Ich erhöhe Ihre Dosis.« Er schrieb Jamies Heilmittel auf. »Und ich will Sie hier in zwei Wochen wiedersehen, damit ich weiß, wie es Ihnen geht.«
Er reichte ihm das Rezept. Jamie bemühte sich darum, nicht vor dem Arzt in Tränen auszubrechen. Er erinnerte sich daran, wie Richard Lance in
Broken Lance
gesagt hatte, dass echte Männer nicht weinten. Wie eineBeleidigung, die noch nach Jahren in ihm brannte, hatte er jetzt diese Worte im Ohr, als er sich zum Gehen anschickte.
»Nicht so schnell, James«, sagte Dr. Brewster. »Ich würde mir mal gerne diesen bösen Ausschlag auf Ihrer Kopfhaut ansehen.«
Jamies Hand schoss nach oben. Plötzlich war ihm bewusst, wie entsetzlich er aussehen musste.
»Ach, das ist nichts weiter, Doktor. Ich bin gegen die Wand gestolpert, als ich den Stall ausgemistet hab.«
»Wirklich?« Dr. Brewster lächelte in sich hinein. Er kannte die Nachwirkungen von Toupet-Klebstreifen nur allzu gut, denn als er jünger und eitler gewesen war – so wie Jamie jetzt –, hatte er auch damit gekämpft.
»Sie brauchen nur eine antiseptische Seife«, sagte er und holte eine aus dem Schrank hinter seinem Schreibtisch. »Bitte sehr, Jamie.«
»Und denken Sie daran«, er tätschelte Jamies Arm und lächelte, »in zwei Wochen sehen wir uns wieder, und da sind Sie wie neugeboren.«
Nachdem die Tür zugefallen war, stand der Arzt noch eine Weile da und starrte auf die Stelle, an der Jamie gestanden hatte.
Es machte ihn traurig, dass er diesem Farmer nicht das geben konnte, was er am meisten brauchte: Wurzeln, eine Basis, eine Familie. All dieses war ihm von frühester Kindheit an vorenthalten worden. Wie sollte es möglich sein, etwas Solides aufzubauen, wenn man keine Steine fürs Fundament hatte?
Das Medikament, das er ihm verschrieben hatte, war nicht die Antwort; es half ihm einfach nur zu vergessen, was er niemals hatte. Das Einzige, was James glücklich gemacht hätte, wäre das Auftauchen seiner Mutter gewesen. Und darauf könnte er wohl bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag warten, musste sich der Arzt eingestehen.
Auf dem Rückweg bestand Paddy darauf, dass Rose Jamie noch etwas zum Abendessen machte.
Er sorgte sich um seinen Freund, seit er entdeckt hatte, dass das Essen, das er ihm mitgebracht hatte, unberührt in Jamies Küche stand. Er hatte es in den Schweinetrog geworfen und sich über die Verschwendungaufgeregt, denn es war wirklich ein erstaunlicher Querschnitt aus der Küche seiner Frau. Was für eine Schande, dachte Paddy, all diese herrlichen Gerichte: Irish Stew, Marmorkuchen, Backpflaumen mit Speckscheiben, Schweinebäckchen in Apfelsauce, Rhabarberkuchen, Würstchen-Lauch-Quiche – von den vielen Brötchen und Keksen gar nicht zu sprechen. Jetzt hatte Rose kaum noch Geschirr und brauchte ihre Teller und Schüsseln zurück. Und die klapperten nun fröhlich auf dem Rücksitz des Morris Minor, als die beiden Freunde den holprigen Weg zum Bauernhaus der McFaddens hochfuhren.
Rose stand an einer brutzelnden Pfanne mit
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