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Der übersehene Mann: Roman

Der übersehene Mann: Roman

Titel: Der übersehene Mann: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christina McKenna
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warnen, bloß weiterzugehen. Nun wurde er schneller und sprang geräuschlos die Treppe hinunter, alle Angst hinter sich lassend. Nur voranzukommen zählte.
    Draußen kämpfte er mit dem Wind gegen die sturmgepeitschte Tür. Sein Nachthemd blähte sich wie ein Dämon im Angesicht eines Exorzisten auf, dann klebte es an seinem Körper. Er war zu klein und hatte nicht genug Kraft. Mit den bloßen Füßen rutschte er auf dem nassen Gras aus, fiel auf den Bauch und blieb dort liegen. Die Feuchtigkeit kroch unter das Nachthemd, und mit der Wange an der Grasnarbe horchte er ganz weit nach unten, dorthin wo – wie ihm jeden Tag versichert wurde – die Höllenfeuer unheilbringend wüteten.
    Doch er hatte keine Zeit zu verlieren. Schnell stand er wieder auf. Mit seinem ganzen Gewicht stemmte er sich mit dem schmerzenden Rücken gegen die Tür, bis sie schließlich nachgab. Er hämmerte mit seiner kleinen Faust auf den rostigen Haken und rannte sofort unendlich erleichtert zurück.
    Doch oben an der Treppe angekommen, blieb er abrupt stehen. Die Tür zu Keaneys Zimmer stand offen. In der Dunkelheit konnte er ihn spüren und seinen fauligen Atem riechen. Furcht schnürte ihm die Kehle zu. Ihm war, als falle ein Vorhang. Er rief still nach der Mutter, die er nie gekannt hatte, und nach dem Gott, der ihn nie erhörte, als eine schwere Hand auf seine Schulter fiel und ihn grob in das Zimmer schubste.

9
    Teuerste Dame ...
Gnädige Frau ...
Meine verehrte Dame ...
Liebe Dame ...
Liebe Miss ...
    Jamie McCloone war schon ganz verzweifelt, wie er die unbekannte Frau, die die Anzeige aufgegeben hatte, ansprechen sollte. Da er schon vier Blätter für die Anrede verbraucht hatte, machte er sich Sorgen, dass der ganze Block in Rauch aufgehen würde, bevor er auch nur einen einzigen Satz zu Papier gebracht hatte.
    Er lehnte sich auf dem Küchenstuhl zurück und seufzte schwer. Es ging nicht anders, er musste runter zu Rose McFadden radeln und sie bitten, den Brief für ihn zu schreiben. Denn auch wenn Jamies Handschrift einigermaßen lesbar war, mit der Rechtschreibung und der Zeichen setzung und all dem hatte er es nicht so.
    Das hieß natürlich auch, dass Rose mitbekam, was er vorhatte. Aber da sie sich bereits mit seiner Unterwäsche bestens auskannte, was machte es dann noch aus? Und war es nicht Rose gewesen, die Paddy das Ganze überhaupt erst vorgeschlagen hatte? Außerdem war Rose, wenn man es genau besah, eine nette Frau, die keine Gerüchte verbreitete, keine von der Sorte wie Maisie Ryan.
    Rose verstand ihn sofort. »Gar kein Problem«, sagte sie. »Setz dich einfach mal hin, Jamie, und ich gucke mal, was ich für dich tun kann.«
    Sie zog einen Stuhl unter dem vollgestellten Tisch hervor und klopfte das Kissen aus.
    In der Küche standen die Gerüche von frisch gebackenem Brot und von den vergangenen und kommenden Mahlzeiten: dem Gebratenen zum Frühstück, dem Auflauf zum Mittagessen und einer leise köchelnden Brühe für den Abend. Rose kam ihm wie ein Arbeiter in einem Steinbruch vor, feiner Mehlstaub hatte sich auf ihre starken Unter arme und ihr ingwerfarbenes Haar gelegt, das etwas unvorteilhaft in einem Heiligen schein aus großen Locken um ihr Gesicht stand. Ihre Wangen waren immer gerötet: vom erhöhten Blutdruck, den geplatzten Äderchen und der Hitze aus dem Ofen und vom Herd.
    Sie war eine fleißige Hausfrau und eine fähige Köchin, hatte die meisten Rezepte ihres königlichen Kochbuchs mit unterschiedlichem Erfolg nachgekocht, konnte stricken und nähen und fast alles nach Schnittmustern oder Anleitungsbögen herstellen.
    Jeder Stuhl, jedes Fenster und alle Oberflächen im Haus zeugten von Roses Freude an Hand- und Bastelarbeiten. Außerdem liebte sie Plunder aus dem Second-Hand-Laden. Vorhänge: plissiert, mit Bordüre, gesmokt. Kissen: bebändert, mit Rüschen, mit Bommeln. Hussen und Tischläufer: aus Makramee, mit Applikationen, bestickt, geknüpft. Korb ähnliche Objekte: eine Schüssel mit passendem Untersatz, die in einer Beschäftigungstherapie zur Linderung ihrer Depression nach einer Entbindung entstanden war. Ein Hahn aus Pappmachee, den sie an sechs Freitagabenden im Gemeindesaal gebastelt hatte, während Paddy in Murphys Kneipe um den Duntybutt-Preis im Dartwerfen gekämpft hatte. Objekte aus Muscheln und Treibgut vom Strand in Portaluce: eine Lampe aus einer Weinflasche mit einem fransenbehangenen Schirm, ein Postkartenteller von einem Wal, ein mit Muschelschalen eingefasster Kartentisch;

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