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Der übersehene Mann: Roman

Der übersehene Mann: Roman

Titel: Der übersehene Mann: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christina McKenna
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Körper, als sich die Worte Bahn brachen.
    »Und wenn du nicht lieb bist und deine Arbeit nicht machst, was passiert dann?« Sie sah ihn mit abgrundtiefer Verachtung an. Schweißperlen sammelten sich auf ihrer Stirn. Dann entblößte sie grinsend ihre schlechten Zähne.
    »Dann wird Gott mich st... strafen, und meine Ma... Mami kommt mich nicht abholen.«
    »So ist es.« Sie richtete sich auf. »Und nun sieh zu, dass du an die Arbeit gehst, sonst darfst du heute nicht ins Bett und bekommst morgen kein Frühstück.«
    Sie marschierte zur Tür, doch dann blieb sie stehen. Sofort bückte er sich über die Fliesen, denn er hatte Angst, dass sie zurückkommen könnte.
    »Sechsundachtzig, wechsel das Wasser, wenn es dreckig ist. Hast du gehört? Wenn du den Boden vom Eimer nicht mehr sehen kannst, musst du frisches Wasser holen. Hast du das verstanden?«
    »Ja, Schwester.«
    Und damit ließ sie ihn ganz allein in einem Sog von Angst und Gefahr in der freudlosen Halle zurück, mit dem Eimer, der Bürste und seinem kleinen, hämmernden Herzen.
    Zwei Stunden später – die Arbeit war beendet – lag er im beengten Schlafsaal. Drei Reihen mit insgesamt sechsundneunzig Betten. Sechsundneunzig Jungen, ausgehungert nach Liebe und Nahrung, die kaum Schlaf fanden. Sechsundneunzig gnadenlos Zurückgestoßene, auf die nie eine wolkenlose Sonne scheinen würde.
    Sie waren alle unter zehn, aber keiner von ihnen kannte sein Alter oder wusste, was es mit Geburtstagen und Geschenken auf sich hatte, oder dass zu Weihnachten der Weihnachtsmann kam. In all den langen Jahren im Waisenhaus hatte sie nie jemand in den Arm genommen oder angelächelt, hatten sie nicht einmal Fleisch gegessen oder Messer und Gabel benutzt. Sie wussten nicht, wie es sich anfühlte, ein warmes Bad zu nehmen oder unter Baumwolllaken zu liegen.
    Ihr einziges Vergehen war, dass ihre Mütter gestorben oder zu arm gewesen waren. Oder zu ängstlich, um den Menschen vom Amt, von denen sie für unfähig gehalten wurden, ihren Mutterpflichten nachzukommen, Widerstand entgegenzusetzen. Die Kinder zahlten für die »Liebe«, die sie in die Welt gebracht hatte: Eine Liebe, die in den »heiligen« Augenihrer »Betreuerinnen« verdorben war, weil sie zwischen niederen Kreaturen stattgefunden hatte – zwischen armen Leuten.
    Sechsundachtzig lag zusammengerollt wie ein kleines Häschen in seinem winzigen Nest, die Decke über den Kopf gezogen. Rücken, Knie, Hände waren immer noch schmerzhaft verspannt. In Gedanken war er unten in der verlassenen Halle und schrubbte Fliese um Fliese. Er konnte keinen Schlaf finden.
    Um ihn herum warfen sich seine Leidensgefährten stöhnend im Halbschlaf herum, die dünnen Decken hoben und senkten sich im angsterfüllten Rhythmus ihrer Träume. Der Wind pfiff durch die Fensterritzen. Er schlug die Decke zurück und spähte ängstlich darunter hervor. Irgendwo klapperte eine Tür. Konnte das die Tür des Schuppens sein, in dem die Putzsachen aufbewahrt wurden?
    Alarmiert stützte er sich auf die Ellenbogen und versuchte, das Geräusch auszumachen und herauszufinden, woher es kam. Er erinnerte sich daran, den Eimer und die Bürste weggestellt zu haben, aber hatte er die Tür zugehakt? Er wusste es nicht mehr. Seine Gedanken jagten im Kreis herum und langsam nahm die Folge dieser Nachlässigkeit eine entsetzliche Gestalt an: fünfzehnmal mit dem geprägten Gürtel hintendrauf. Er musste hinuntergehen und sie verriegeln.
    Er warf die Decke zurück, streckte seine wunden Beine und ließ sich auf den Boden herab. Es war den Kindern streng verboten, nach zehn Uhr die Betten zu verlassen. Aber er musste einen Verstoß begehen, um den Folgen eines anderen zu entkommen.
    Die Schritte seiner bloßen Füße hallten auf dem kalten Steinboden wider, als er an den Schlafenden vorbeiging. Ein Junge wimmerte mit dünnem, klagendem Ton unter seiner Decke, als wollte er ihn zurückhalten. Aber er ging vorbei, schloss die Tür leise hinter sich und fand sich in der Dunkelheit des Flurs.
    Allmählich konnte er die Treppenpfosten im ersten Licht der Dämmerung vom Fenster her ausmachen. Er wurde sich bewusst, was für ein Risiko er einging, und lief auf Zehenspitzen an den Türen der Mutter Oberin und Direktor Keaneys vorbei. Eine verräterische Diele knarzte,und er stoppte abrupt, entsetzt von der Vorstellung, gehört worden zu sein. Für einen Moment hielt er den Atem an, den Fuß über der Diele erhoben. Dann hörte er die Schuppentür schlagen, als wollte sie ihn

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