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Der übersehene Mann: Roman

Der übersehene Mann: Roman

Titel: Der übersehene Mann: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christina McKenna
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selben Moment beschloss er, sich zu ändern.
    In dieser Nacht wuchs sein Wunsch nach Veränderung, so wie ein heruntergebranntes Feuer plötzlich bei einem starken Luftzug durch den Schornstein aufflammt. Ja, er würde nicht mehr so viel Fettes essen und das Trinken aufgeben – oder vielleicht etwas weniger trinken –, sich mehr bewegen und viel öfter mit dem Rad in die Stadt fahren.
    Vor seinem inneren Auge sah er sich schon in einem neuen Anzug aus Harveys Modeladen herauskommen. In einer Hose mit Bügelfalten, für die er keine Hosenträger mehr benötigte, weil sie durch einen Gürtel gehalten wurden, in den er keine zusätzlichen Löcher mit Hammer und Nagel schlagen musste. Unter dem Anzug trug er ein weißes Hemd, dessen gestärkter Kragen ihm ein Gefühl von Bedeutung verlieh. Davon setzte sich eine leuchtend rote Krawatte mit Paisleymuster ab und seine Schuhe glänzten wie Kastanien.
    Und schließlich sah er sich, wie er auf seine zukünftige Frau traf. James Kevin Barry Michael McCloone, ein Mann von hohen moralischen Maßstäben. Ein stolzer Mann mit relativ flachem Bauch, der sich ziemlich gerade hielt.

12
    Lydia und Daphne hatten sich in ihre Speisekarten vertieft. Sie waren zum Mittagessen im Golden Gate Café und offensichtlich glaubte man hier, alle Zutaten, die ihnen an die Küchentür geliefert wurden, braten oder frittieren zu müssen. Vor Kurzem war Lydia jedoch aufgefallen, dass sich zwei gesündere Gerichte in die Karte eingeschlichen hatten. Für dieses kleine Zugeständnis war sie dankbar.
    Die Freundinnen saßen sich in einer vinylgepolsterten Nische an einem Tisch mit einer grün gemusterten Wachstuchdecke gegenüber. An den Wandvertäfelungen aus nachgemachter knorriger Pinie hingen sepiafarbene Drucke aus Killoran aus einem freundlicheren Zeitalter.
    Im Café war nicht viel los. In einer Ecke saßen Jugendliche bei Pommes frites und Cola. An einem anderen Tisch schaufelte ein einsamer Farmer etwas Fettgebratenes in sich hinein, dazwischen schlurfte er Tee. Wie ein Ferkel am Futtertrog. Lydia bemerkte, dass das Café ganz schön heruntergewirtschaftet war, und schwor sich, fürs nächste Mal ein besseres Lokal auszusuchen.
    Daphne war froh, aus der Bibliothek heraus zu sein, und Lydia freute sich, etwas ohne ihre Mutter zu unternehmen. Sie hatte Elizabeth bei Beatrice Bohilly abgesetzt, die sich von ihrer Freundin ein Lob für ihr fertig gestelltes Malen-nach-Zahlen-Bild, Stute und Fohlen am See, erhoffte. Lydia wusste aus Erfahrung: Wenn die beiden Damen zusammenkamen, verliefen sie sich in einem unendlichen Erinnerungs- und Klatsch-Labyrinth. Dafürwar Lydia dankbar. Sie konnte so viel Zeit mit Daphne verbringen, wie sie wollte, ihre Mutter würde es noch nicht einmal bemerken.
    Eine junge Kellnerin kam mit einem Notizblock, einem Stift und einem Lappen an ihren Tisch. Sie machte ein unwahrscheinlich gelangweiltes Gesicht.
    »Was kann ich ’n bringen?«
    »Ich nehme eine Quiche mit Salat, vielen Dank«, sagte Lydia. »Und du, Daphne?«
    »Ich glaube, ich versuche die Scampis mit Pommes frites. Ich sollte eigentlich was anderes nehmen, aber ich wünschte mir deine Willensstärke, Lydia.«
    Die mürrische Kellnerin kritzelte etwas auf ihren Notizblock.
    »Unsinn, iss doch, was dir schmeckt«, sagte Lydia. »Das Leben ist so kurz. Ich wollte nur sagen, dass ...«
    »Woll’n Se noch was zu trinken dazu?«, unterbrach sie die Kellnerin.
    »Tee für zwei, das wäre freundlich, vielen Dank«, antwortete Daphne. »Aber weißt du, ich war so nachlässig mit meinen Spaziergängen«, fuhr sie an Lydia gewandt fort. »Abends kann ich einfach keine Energie mehr aufbringen, da mache ich nur noch mit einem Buch auf meinem Sofa schlapp.«
    Das Mädchen schob sich den Stift hinters Ohr, riss die Durchschrift vom Block und schob sie unter den Salzstreuer. Dann ließ sie den Lappen auf den Tisch fallen und rieb nachlässig über die Wachsdecke. »Alles klar«, sagte sie und schlich zur Küchentür.
    »Auf jeden Fall hast du mehr Energie als die da.« Lydia sah dem Mädchen nach. »Und die ist nur halb so alt wie du. Schrecklich, wenn man sich aufgibt und noch so jung ist. Das muss doch an den Eltern liegen.«
    Aber Daphne brannte darauf, die Antworten zu sehen, die Lydia auf ihre Anzeige bekommen hatte. »Die Briefe, Lydia«, sagte sie ungeduldig. »Bitte zeig sie mir jetzt.«
    Die Freundin kramte in ihrer unechten Krokodilledertasche. »Lies sie dir mal durch und sag mir, was du davon hältst.« Sie

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