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Der übersehene Mann: Roman

Der übersehene Mann: Roman

Titel: Der übersehene Mann: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christina McKenna
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stehen. Die Türen der Kapelle, in der der Priester bereits auf den Beginn des Gottesdienstes wartete, wurden geöffnet.
    Jeden Tag um sechs Uhr, noch vor dem Frühstück, hatten sie Gott zu danken.
    Sie schlichen lautlos zu ihren Bänken, knieten sich augenblicklich mit bloßen Knien auf dem harten Holz nieder, die nackten Zehen auf dem Steinboden verkrampft. Und so würden sie die nächste Stunde ausharren; sie durften weder aufstehen noch sich setzen oder bewegen, sie durften sich nicht die geringste Erleichterung verschaffen. Ihre Lippen bewegten sich im Gebet und ab und an bekreuzigten sie sich. Keine anderen Gesten und Laute waren ihnen gestattet, kein Lächeln, kein Sprechen, kein Husten. Wenn ein Geräusch die Stilledurchbrach, verärgerte das den Priester – und der Preis dafür war hoch.
    Sechsundachtzig hatte Fieber. Er hatte wegen eines bellenden Hustens nur wenig Schlaf gefunden und er litt unter Kopfweh und Gliederschmerzen. Jetzt musste er unbedingt husten. Sein Brustkorb bebte unter dem Druck, das Husten zu unterdrücken. Dann brach ein Hustenreiz aus ihm empor, der so heftig war, dass er ihn nicht unterdrücken konnte. Er hielt die Hand vor den Mund und hustete, hustete, hustete.
    Im Nu hörte er die gefürchteten Geräusche: die schnellen, wütenden Schritte auf dem gefliesten Boden. Mit harter Hand wurde er aus der Bank gezerrt. Schwester Bernadette führte ihn im Polizeigriff nach draußen ab. Regen prasselte auf ihn nieder und der Wind peitschte auf seine Kleidung ein.
    »Mund auf!«, befahl sie und stieß ihm ein Stück schwarzer Seife hinein.
    »Frühstück!«, fuhr sie ihn an und schlug ihm mehrmals hart ins Gesicht. Dann musste er im Regen stehen bleiben, wo er über seine Sünden nachdenken und Buße tun sollte.
    Um zwei Uhr rief Schwester Veronica ihn in ihren Unterricht.
    Das Schulzimmer war staubig und zugig, die Schüler saßen auf fünf langen Bänken. Es roch nach alter Tinte und Kreidestaub. Auf einem Podest stand eine Tafel, davor das Lehrerpult, auf dem sich ein Globus auf einem Holzständer drehte. An den Wänden hingen an Mahagonistäben Bilder von Maria und Jesus, von Säugetieren und Vögeln sowie eine rissige, glänzende Karte von Irland.
    Schwester Veronica stand an der Tafel und deutete mit ihrem Stock unter den ersten Vers. Dies war ihr Zimmer. Dies war ihre Welt. Hier bläute sie ihren Schülern Wissen ein. Hier übte sie schärfste Kontrolle aus, verlangte absolute Aufmerksamkeit und weigerte sich standhaft, Lob auszuteilen, wenn es angebracht gewesen wäre.
    »Auf drei sagt ihr das Gedicht im Chor auf. Eins, zwei, drei ...«
    Muße
    von William Henry Davies
    Was ist dieses Leben, wenn wir vor lauter Sorgen
Keine Zeit haben zu sehen, was ist verborgen.
    Keine Zeit, unter Zweigen zu verharren
Und so lange wie Schafe und Kühe zu starren.
    Keine Zeit, in unseren Wäldern zu entdecken, wo Eichhörnchen ihre Nüsse im Gras verstecken.
    »Gut. Das langt fürs Erste. Jetzt holt eure Tafeln hervor und schreibt es ab.«
    Da fiel ihr etwas ins Auge.
    »Einundachtzig, hast du mich verstanden?« Sie ließ den Stock auf ihren Schreibtisch heruntersausen. »Steh auf! Was hast du da eben gerade gemacht?« Sie eilte mit schleifenden schwarzen Röcken nach hinten.
    »Steh auf, Einundachtzig! Was hast du unter dem Tisch zu schaffen?«
    Der schlaksige Junge, groß für seine acht Jahre, erhob sich ungelenk. Auf seinem geschorenen Kopf breitete sich violett und gelb von der Schläfe her ein Bluterguss aus. Vor einigen Tagen war er mit dem Kopf gegen die Flurwand geschleudert worden, zur Strafe dafür, dass ihm seine Schüssel beim Frühstück heruntergefallen war. Er hatte ein Herpesbläschen an der Lippe und wie alle anderen Jungen war er von einer kränklichen Blässe und hatte den seelenlosen Blick aller Unterernährten und Ungeliebten.
    »Mir ist die Tafel runtergefallen, Schwester.« Er streckte sie ihr mit zitternden Händen entgegen, als würde das etwas beweisen, weil er nicht wusste, was er sonst tun sollte.
    »Und warum hast du sie fallen gelassen?«, fuhr sie ihn an. Im Klassenzimmer herrschte Stille. Der Junge wusste nicht, wie er antworten sollte, denn was er auch sagte, es wäre sowieso falsch.
    »Nun, wir warten. Nicht wahr, Kinder?« Sie beschrieb einen großen Bogen mit dem Arm, um die ganze Gruppe einzuschließen.
    »Ja, Schwester!«, schallte es im Chor aus der Klasse. Einundachtzig blieb stumm und starrte auf die Bank herab.
    »Nun, wenn du so dumm bist, dass du noch

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