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Der übersehene Mann: Roman

Der übersehene Mann: Roman

Titel: Der übersehene Mann: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christina McKenna
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nicht einmal weißt, warum du sie fallen gelassen hast, dann muss ich es dir wohl sagen: weil du nicht aufgepasst hast.« Ihre herzlosen Worte trafen ihn wie Nadelstiche. Mit dem Stockende hob sie sein Kinn an und zwang ihn, ihr in die Augen zu sehen. »Wie oft hast du deine Tafel in diesem Monat in meinem Unterricht fallen gelassen, Einundachtzig?«
    »Beide Male, Schwester.«
    »Das heißt nicht ›beide Male‹. Die korrekte Antwort lautet ›zweimal‹. Und das sagst du jetzt, und zwar in einem zusammenhängenden Satz.«
    Der Junge schluckte und begann.
    »Ich h... habe m... m... meine Tafel zwei... zweimal in diesem M... Monat fallen lassen, Schwester.«
    »Gut, das wäre dann heute also das dritte Mal.« Sie packte ihn bei der Schulter und er versuchte, die Beine so schnell wie möglich unter der Bank vorzuziehen. Dann marschierte sie mit ihm nach vorne.
    »Hände ausstrecken!«, befahl sie.
    Sie krempelte die Ärmel ihrer Ordenstracht hoch und zielte genau und mit Bedacht. Sie schlug wieder und wieder mit dem Stock auf seine Hände. Jeder Schlag tat so weh, als würde er sich die Finger in einer zugeschlagenen Tür einklemmen. Laut schrie sie ihn an.
    »Du. Dreckiger. Schmutziger. Nutzloser. Junge. Du. Lässt. Deine. Tafel. In. Meinem. Unterricht. Nicht. Mehr. Fallen.«
    Fünfzehn Worte, fünfzehn Hiebe mit dem Stock. Der Raum vibrierte von ihrer Wut und der Pein des Jungen.
    Als sie fertig war, befahl sie Einundachtzig, sich in die Ecke zu stellen. Aber statt zu gehorchen, taumelte er und brach zu ihren Füßen zusammen. Er fiel mit einem dumpfen Aufprall auf sein verletztes, aschfahles Gesicht. Ein Keuchen ging durch die Klasse, als Schwester Veronica sich über die auf dem Rücken liegende Figur beugte.
    »Steh auf, du fauler Schuft!«
    Aber der Junge zuckte noch nicht einmal zusammen. Er war ohnmächtig. Aus seinem linken Ohr floss Blut und schon bildete sich eine Lache auf dem Boden.
    Die Nonne ging zur Tür und rief nach Hausmeister Bartley. Er war sofort zur Stelle und schaffte Einundachtzig fort.
    »Auf die Krankenstation«, wies ihn die Nonne an.
    Dann wandte sie sich wieder an die Klasse. »Ihr anderen schreibt jetzt gefälligst die Verse ab.«
    Zwanzig Köpfe beugten sich über die Aufgabe.
    Sie hatten alle schon so viel Gewalttätiges erlebt und mit angesehen, dass sie die Ohnmacht ihres Mitschülers nicht weiter erschütterte. Ihr einziger Trost war, dass sie der Wut der Nonne bislang noch entronnen waren. Ihr einziges Ziel war, dass das bis zum Ende der Stunde so blieb.
    Sechsundachtzig konnte kaum sitzen. Er versuchte, sein Gewicht von einer Hüfte auf die andere zu verlagern, ohne ihre Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Die Seife, die man ihn am Morgen gezwungen hatte herunterzuschlucken, rächte sich jetzt. Seine Speiseröhre brannte wie Feuer. Ihm tat alles weh, seine Kleider waren durchnässt und der Husten, der ihm so viel Kummer eingehandelt hatte, drohte ihn ein weiteres Mal zu verraten. Er war verzweifelt, er wollte weinen und sterben. Aber da er in seinem ganzen Leben keine einzige angstfreie Minute erlebt hatte, wusste er, dass er nicht die geringste Wahl hatte. Unter diesen qualvollen Umständen tat er, was man von ihm verlangte, und schrieb mit zittriger Hand die Buchstaben mit der Kreide auf die Tafel. Fürs Erste lag seine Rettung in der Abschrift bedeutungsloser Worte, die eine bedeutungslose Strophe bildeten.
    Er war beim vierten Vers: »Und so lange wie Schafe und Kühe zu starren.« Immerhin wusste er, wie Schafe und Kühe aussahen. Auf einem Plakat an der Wand waren welche abgebildet, darüber stand »Old MacDonald’s Farm«. Wenn er groß war, wollte er Farmer werden. Er sah sich selbst wie Mr MacDonald mit einem schiefen Hut und gebogenen Stab auf einem grünen Feld stehen und ein Collie tobte im Matsch umihn herum. Er konnte das Blöken und Muhen der Tiere hören und sehen, wie sie auf ihn zugelaufen kamen, um gefüttert zu werden.
    »Du hast aufgehört zu schreiben, Sechsundachtzig. Dann bist du also fertig?« Die Nonne beugte sich über ihn.
    »Nein, Schwester.« Er sah hoch.
    »Hör auf zu träumen und schreib weiter.« Sie ging zum nächsten Jungen, doch drehte sie sich noch einmal zu ihm um. »Und setz dich wie ein Christenmensch auf deinen Stuhl.«
    Er setzte sich hin, wie es von ihm verlangt wurde, Schmerz durchschoss ihn und schreckte ihn aus dem Tagtraum. Am Ende der Stunde blieb er mit den unbegreiflichen Buchstaben auf der Tafel, dem Anblick der Blutlache und

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