Der übersehene Mann: Roman
Resopaltische. Auf dem Teppichboden kämpften lila Streifen gegen wilde gelbe Flecken, sodass bereits mehr als ein Betrunkener nach Hause gegangen war in dem Glauben, sich bereits übergeben zu haben. Die vom Rauch vergilbten Wände waren aus grobem Strukturputz. In regelmäßigen Abständen hingen Lampen mit verstaubten grünen Schirmen von der Decke herab und erzeugten bei den Gästen eine gelbliche Gesichtsfarbe, als befänden sie sich in einem frühen Stadiumvon Leberzirrhose – eine Krankheit, die sich höchstwahrscheinlich bei nicht wenigen von ihnen in nicht allzu ferner Zukunft einstellen würde.
Die Lounge war brechend voll, als Jamie und seine Freunde ihre Plätze einnahmen, die Declan ihnen direkt an der Bühne reserviert hatte. Gespräche und Gelächter, Zigarettenrauch und Flüche flirrten durch den Raum, Batterien von Flaschen und Gläsern standen auf allen Tischen, aus den übervollen Aschenbechern quollen Streichhölzer und Kippen.
Mary, die jugendliche Tochter der O’Sheas – die die Augen ihrer Mutter hatte (wofür sie dankbar war) und das Kinn ihres Vaters – servierte Drinks und sammelte Gläser ein. Sie war groß, attraktiv und rothaarig und hasste die Samstagabende mit ihrer ekelhaften Mischung aus Rauch, grapschenden Händen, verschwitzten Männern und rüder Anmache. Oft weigerte sie sich, ihren Eltern auszuhelfen, wenn sie nicht im Voraus bezahlt wurde, und da sie so willensstark und unerschrocken wie ihre Mutter war, setzte sie sich fast immer durch.
Declan Colt schwang auf der kleinen Bühne die Hüften zu »Dixieland« in einem tieferen Bariton als Elvis. Den Satinkragen hatte er hochgestellt, den Kopf hielt er gesenkt, dazu kaute er fast auf dem Mikrofon und wischte sich dauernd mit einem großen schneeweißen Taschentuch über die Stirn. Die Silver Bullets sahen dagegen fast schon reglos aus. Der Schlagzeuger bearbeitete seine Trommel und schüttelte den Kopf hin und her wie im Streit. Der Gitarrist schien unter Schock zu stehen und zupfte mit dem Daumen an einer Bassgitarre herum, die Augen starr auf einen Punkt der gegenüberliegenden Wand geheftet.
Nach jeder langsamen Nummer brachten sie einen schnellen Song, um wieder etwas Leben in die Bude zu bringen. Declan hatte gerade mit »Blue Suede Shoes« angefangen und mehrere Paare schoben sich schüchtern über die Tanzfläche. Sie tanzten den Jive unbeholfen und rempelten sich gegenseitig an. Die Männer schwitzten in den langärmeligen Hemden und den Frauen wurde schwindelig. Doch nach und nach wurden sie zuversichtlicher und wirbelten schneller herum, Frauen in geblümten Kleidern begannen zu zucken, Schmuckstücke tanzten auf und ab, sie drehten sich und sahen doch immer wieder auf ihre Schuhe hinunter, alswollten sie prüfen, ob sie nicht in einen Hundehaufen getreten waren.
Als die Pause kam, nickte Declan Jamie zu.
Jamie hatte sich inzwischen genug Mut angetrunken. Er war bereit, schnallte sich sein zweireihiges irisches Horner-Akkordeon vor und kletterte auf den Hocker. Die Leute feuerten ihn begeistert an, hoben ihre Gläser in schwitzenden Händen und toasteten Jamie zu.
»Hol ordentlich was raus aus deiner Quetschkommode, Jamie!«, rief jemand. »Lass hören, was du kannst!«
Sekunden später war Jamie weit weg, »The Boston Burglar« strömte laut und mitreißend aus dem Blasebalg.
Oben auf dem Barhocker saß Jamie in einem hellen Kegel aus Licht. Er schwenkte das Instrument wie ein Krieger das Schild, seine Finger tanzten über die Knöpfe und der Raum füllte sich mit dem satten Klang. Er spielte mit zur Seite gelegtem Kopf, der Schweiß perlte ihm von der Stirn und er hielt die Augen geschlossen, sodass er den Rauch, das gleißende Licht und das Publikum ausblendete. Nichts ließ sich mit der Freude vergleichen, die Jamie in diesen Momenten in dem aufgeheizten Saal empfand, mit den Augen von siebzig Leuten auf ihm, dem Klopfen ihrer Füße, ihrem Klatschen – und er war der Anlass, er war der unangefochtene Mittelpunkt.
Mühelos glitt er von Song zu Song. Eine halbe Stunde Pause für Declan & The Silver Bullets bedeutete eine halbe Stunde Glanz für ihn. Gerade hatte er »The Black Velvet Band« beendet und sonnte sich im Applaus, als irgendjemand vom anderen Ende des Raums zu schreien begann. Es war die Stimme von Chuck Sproule.
»Leute, was ist der Unterschied zwischen Jamie McCloone und einem Eimer Scheiße?«
Ein Japsen ging durch die Menge.
Die Antwort traf Jamie mit ihrer ganzen ordinären
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