Der übersehene Mann: Roman
für ein zuverlässiges Zeichen für sie halte. Jedenfalls wenn an dem Tag kein Empfang und keine Hochzeit stattfindet, was natürlich störend wäre. Doch glaube ich kaum, dass ein Hochzeitsphotograf seine Ausrüstung vor sich auf den Tisch legt. Deswegen nehme ich an, dass meine Kamera ein gutes Zeichen ist.
Ich hoffe sehr, dass Sie sich zum Kommen entschließen. Ich werde bis deutlich nach fünf Uhr im Hotel bleiben, falls Sie sich aus irgendeinem Grund verspäten sollten. Ich freue mich außerordentlich darauf, Sie kennenzulernen.
In freudiger Erwartung verbleibe ich mit freundlichen
Grüßen,
Frank Xaver McPrunty
Lydia faltete den Brief zusammen und steckte ihn wieder in ihre Handtasche, zufrieden zu wissen, mit wem sie es zu tun hatte. Sie hatte sich dafür entschieden, Mr McPrunty zuerst zu antworten, weil er ihr von den beiden, die infrage kamen, etwas interessanter erschienen war und mehr zu ihrem eigenen intellektuellen Niveau zu passen schien. Mr McCloone, den Farmer, behielt sie erst mal in der Hinterhand, falls sich Frank als ungeeignet erweisen sollte.
Sie warf einen letzten Blick auf ihr Spiegelbild und freute sich über ihre elegante Silhouette. Das rosa Kleid mit der hohen Taille, dem schwingenden Rock und dem Schmetterlingskragen war eine gute Wahl: Sie wirkte darin auf eine unauffällige Weise attraktiv.
Ein Blick auf die Uhr sagte ihr, dass sie Daphne in zwanzig Minuten an der Bücherei abholen konnte. Ihre Freundin hatte sich bereit erklärt, sie zur moralischen Unterstützung zu begleiten.
»Natürlich komme ich mit, meine Liebe!«, hatte Daphne ihr versichert. »Sonst könnte dich der mysteriöse Fremde noch entführen und ich würde dich nie mehr wiedersehen.«
Bei dem Gedanken musste Lydia lächeln. Sie legte sich eine weiße Strickjacke über die Schultern, nahm ihre Tasche, hob ein Bibliotheksbuch auf und verließ das Zimmer. Das Buch diente der Tarnung ihres Vorhabens.
»Ich gehe eben noch mal bei Daphne in der Bibliothek vorbei, Mutter.« Lydia versuchte, so fröhlich und natürlich zu klingen wie möglich. »Soll ich Bücher für dich auswechseln?«
Elizabeth Devine saß im Wohnzimmer mit dem Stickrahmen auf dem Schoß. Eine Tasse Tee stand bereit und im Fernseher rollte eine stumme Fanny Craddock gerade Teig aus. Sie sah Fanny weiter zu und ignorierte Lydia.
»Die Stimme kann ich nicht aushalten! Hört sich an, als würde sie auf Kies kauen. Und warum muss sie überhaupt so viel reden? Wir sehen doch, was sie tut. Wir sind doch nicht schwachsinnig.«
Lydia wartete, bis ihre Mutter fertig war, dann versuchte sie es noch mal.
»Mutter, soll ich Bücher für dich austauschen?« Sie hielt ihr Buch von Victoria Holt in die Luft.
»Und ihr Ehemann ist ein kompletter Idiot. Sieh ihn dir nur mal an!« Johnny Craddock kam gerade mit einer Kastenform und einem Holzlöffel ins Bild.
»Warum zieht er sich so an, wenn er backt? Mit Blazer und Krawatte? Man sollte meinen, er wäre beim Pferderennen. Wo sind deren Schürzen denn bloß?«
Lydia sah Johnnys Blazer und Krawatte als Omen des unmittelbar bevorstehenden Ereignisses. Sie erinnerte sich an Frank McPruntys Beschreibung der Aufmachung, in der er zu erscheinen gedachte: dunkel blauer Blazer, graue Hose, rote Krawatte. Als sie Johnny Craddocks kahlen Kopf und das Monokel im Auge betrachtete, erschrak sie. Dann bringe ich es lieber so schnell wie möglich hinter mich, dachte sie.
»Mutter ...«
»Ja, ja, die Bücher. Mit der Cookson bin ich noch nicht durch, aber das andere Geschmier kannst du zurückbringen.« Sie deutete auf das Buch auf der Fensterbank. »Jean Plaidy kommt mir nicht noch mal ins Haus! Da hat eine Frau ihr Oberteil vor einem Mann ausgezogen. So einen Schund habe ich noch nie gelesen. Und sag dieser Freundin von dir, sie soll es unter Verschluss halten oder lieber gleich in den Müll schmeißen, wo es hingehört.«
Lydia nahm das Stück »Pornografie« an sich, beugte sich hinab und küsste ihre Mutter zum Abschied, während der Abspann von Fanny Craddock lief.
»Warum hast du so viel Parfüm aufgetragen?«, wollte Mrs Devine augen blicklich wissen. Sie musterte Lydia von Kopf bis Fuß. »Außerdem trägst du deine Sonntagsschuhe.«
»Mutter, ich gehe aus.« Lydia sah, wie sich in den Augen ihrer Mutter der allzu bekannte Funke des Misstrauens entzündete. »In die Bibliothek.«
»Du führst irgendwas im Schilde. Warum hast du so viel Parfüm aufgetragen, wenn du doch nur deine Freundin besuchst?« Elizabeth
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