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Der übersehene Mann: Roman

Der übersehene Mann: Roman

Titel: Der übersehene Mann: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christina McKenna
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Während der Schulzeit bin ich normalerweise zu beschäftigt dafür. Sie haben in Ihrem Brief geschrieben, dass Sie auch gerne lesen, vielleicht können Sie mir mitteilen, welche Art von Büchern Sie mögen.
    Jamie sah hoch. Die Fliege summte noch immer wie von Sinnen gegen das Fenster an. Auf der Fensterbank standen die einzigen beiden Bücher des Hauses. Sie hatten Onkel Mick gehört, und er hatte sie kaum je aufgeklappt, geschweige denn in ihnen gelesen:
Old Moore’s Almanac,
ein astrologischer Wetter- und Bauernkalender, und ein zerlesenes Exemplar von
Große Erwartungen
, das Micks Onkel Fergal aus einer alten Schule entwendet hatte. Das war ein unerschrockener junger Mann mit einem Hunger nach Wissen und einem Auge für Profit gewesen, der einer bitteren Kindheit entkommen war, indem er seine Religion aufgegeben hatte und sich zusammen mit viel zu vielen anderen Iren auf einem Seelenverkäufer nach Amerika eingeschifft hatte. Als er dort angekommen war, hatte Fergal zuerst seinen Bildungshunger gestillt. Dann wurde er ein ziemlich hoher Bankangestellter, nur um mit zweiunddreißig in einem Schusswechsel zwischen New Yorker Gangstern einer Kugel zum Opferzu fallen, die eigentlich Fred »The Fats« McSweeney gegolten hatte. Fergal war gerade aus dem »The Thirsty Bull«-Spirituosenladen gekommen. »Also hat ihn das Trinken ums Leben gebracht«, kommentierte Mick den Vorfall trocken.
    Jamie vermutete, dass die verschnörkelte Unterschrift »Fergal J. McCloone« auf dem Innentitel des Romans einem Mann gehörte, der »unglaublich schlau« gewesen sein musste und bestimmt viel gewusst hatte. Er wandte sich wieder dem Brief zu.
    Ich fürchte, dass ich nicht viel über die Landwirtschaft weiß, aber ich mag Tiere. Ich hätte so gerne eine kleine Katze, aber da meine Mutter allergisch gegen Tierhaare ist, muss ich mir diesen Wunsch abschminken.
    Sie erwähnten, dass Sie gerne kochen, und das interessiert mich sehr. Ich habe noch nicht viele Männer kennengelernt, die diese Kunst beherrschen. Welche Gerichte bereiten Sie am liebsten zu? Welcher Aspekt des kulinarischen Prozesses interessiert Sie am meisten?
    »Essen«, dachte Jamie sofort, aber er ahnte, dass das höchstwahrscheinlich die falsche Antwort war.
    Ich freue mich, dass Sie Musik mögen. Ich spiele kein Instrument wie Sie, aber ich singe gerne, vor allem Kirchenlieder beim Gottesdienst. Ich mag Andy Williams und James Last.
    Der Ausdruck »Gottesdienst« störte ihn. Eine Katholikin hätte »Messe« geschrieben. Also war sie vielleicht wirklich von der »anderen Sorte«. Aber dann erinnerte er sich daran, dass Rose gesagt hatte, Religion seinicht so wichtig, und da Rose eine weise Frau war, hatte sie bestimmt auch in dieser Hinsicht recht.
    Ich glaube, das ist alles, was ich Ihnen zum jetzigen Zeitpunkt von mir erzählen kann. Ich freue mich auf Ihren Brief und darauf, mehr von Ihnen zu erfahren.
    Übrigens haben Sie eine schöne Handschrift. Haben Sie künstlerische Neigungen?
    Mit freundlichen Grüßen Lydia Devine
    »Ly-dee-a Devine, Ly-dee-a Devine.« Diesen Namen sang Jamie vor sich hin, denn er konnte nicht so recht glauben, was er da gerade gelesen hatte. Er las sich den Brief noch einmal durch, die Episode in der Scheune hatte er vollkommen vergessen. Plötzlich lag ein neuer, aufregender Pfad vor ihm. Sie hatte zurückgeschrieben – das war das Magische daran. Sie hatte ihn wahrgenommen. Und sie hatte sogar seine Handschrift bewundert! Er fühlte sich plötzlich gestärkt. Aber mit seiner Antwort musste er sich große Mühe geben. Er würde noch einmal auf Rose McFaddens Fähigkeiten zurückgreifen müssen.
    Jamie verbrachte den Rest des Tages in begeisterter Vorfreude. Seine Arbeiten erledigten sich fast wie von selbst. Der Kater ging vorüber, ohne dass es ihm auffiel. Er hatte kein Bedürfnis, irgendetwas zu essen, und dann erinnerte er sich freudig, dass es der erste Tag seiner Diät war. Das passte doch wirklich gut. Jetzt hatte er mehr, worüber er nachdenken konnte als Essen. Der Brief veränderte die vorhersehbare Monotonie seines Tages, machte ihm bewusst, dass er vielleicht gar nicht mehr so fern von seinem Glück war, dass die »sonnige Lichtung« vielleicht ganz nah war. Jetzt glaubte er, dass er alles schaffen konnte: Bäume mit bloßen Händen entrinden, dem Schwein beibringen, »Muirsheen Durkin« zu singen, und zwar in der Stimme von John McCormack. Selbst die Sonne vom Himmel holen.
    Bevor er sich ganz auf seine Tagträume

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