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Der übersehene Mann: Roman

Der übersehene Mann: Roman

Titel: Der übersehene Mann: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christina McKenna
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Taschentuch in der Brusttasche, das mit den Jahren und dem Rauch aus Kamin und Pfeife vergilbt war. Neben ihm seine schöne Braut Alice, deren feine Gesichtszüge von einem gewaltigen Kopfschmuck aus Straußen federn und Plastikfrüchten beschattet wurden, in einem Spitzen kleid, das sich zart bis zum Hals hochzog.
    Alice war eines Tages über einen Eimer Hühnerfutter gestolpert und unglücklicherweise mit dem Kopf auf eine Türschwelle aufgeprallt. Einige Tage später wurde deutlich, dass der Unfall ernste Folgen hatte, die ihr Schmerzen verursachten und sie häufig sehr unruhig werden ließen. Die geliebte Alice war völlig verändert. Mick pflegte sie, so gut er konnte, aber er musste sich geschlagen geben, als sie eines Tages im Hühnerstall mit einem Brotmesser auf ihn losging, weil sie ihn mit dem Sonntagsbraten verwechselte. Mick war untröstlich und weinte nach dem Unfall sehr viel, aber er musste sie schließlich doch schweren Herzens zur Pflege in die Nervenheilanstalt St. Peregrin geben.
    Dort starb sie sehr schnell.
    Jamies Augen füllten sich mit Tränen, als er an dieses Unglück dachte. Aus seinem Portemonnaie auf dem Nachttisch nahm er ein säuberlich zum Quadrat zusammengefaltetes Taschentuch, gelb vom Alter und mit irischen Kleeblättern gesäumt. Er tupfte seine Augen mit dem geliebten Taschentuch und legte es ehrerbietig wieder ins Portemonnaie zurück. Gleich ging es ihm besser.
    Dann fiel sein Blick auf das Kostbarste, was er besaß: das zweireihige silberne Akkordeon seines Onkels in dem Walnusskasten. Die schönen Erinnerungen, die sich daran knüpften, halfen Jamie, sich der Realität eines weiteren Tages zu stellen.
    Er hörte, wie ungeduldig die Tiere auf das Frühstück warteten. Sein Kopf fühlte sich an wie ein Fels, der auf einem Stock zitterte, seine Beine und Arme waren wie Zahnstocher, die unter seinem Gewicht zu brechen drohten. Er erhob sich langsam, ohne hinunterzusehen, und stützte sich beim Anziehen seiner Arbeitsmontur ab. Schließlich hatte er die Hosenträger angelegt und die Knöpfe zugemacht und stolperte in die Küche, um sich zur Ausnüchterung den ersten Tee zu kochen.
    Dafür brauchte er länger als sonst. Jedes Geräusch – das Klirren des Bechers, den er aus dem vollgestellten Spülbecken hervorzog, das hervorschießende Wasser aus dem Hahn, das klimpernde Umrühren mit dem Löffel – griff seine bloßliegenden Nerven an. Als er sich in den ramponierten Sessel sinken ließ, den Teebecher auf die Armlehne abstellte und die erste Zigarette des Tages hervorkramte, schwor er sich, nie wieder zu trinken. Aber das war nur ein Gedanke, den er bald wieder vergessen hatte.
    Die Sonne schien zum Fenster herein und in ihrem blendenden Strahl tanzte der Staub. Eine Schmeißfliege summte wie verrückt im Zimmer umher, ließ sich schließlich auf Jamies Lehne nieder und rieb sich die Beine. Unter ihrem metallisch wirkenden Hinterleib hämmerte ihr Motor. Er wollte sie berühren, wusste aber, dass sie sofort wegfliegen würde, wenn er sich regte. Müßig ging er der Frage nach, woher Fliegen ahnten, wenn man sie berühren oder totschlagen wollte. Konnten sie die Zukunft voraussehen, spürten sie den Luftzug einer erhobenen Hand oderhatten sie vielleicht zwei winzig kleine Augen auf ihren winzig kleinen Hinterköpfen? Wer konnte das schon sagen.
    Er zog an der Zigarette und stocherte im Feuer herum. Die Fliege summte verzweifelt am Fenster hoch und runter. Eine Flamme schoss aus der glühenden Kohle hervor und sogleich brannte das Feuer wieder. Er stellte das Schüreisen wieder zurück und griff geistesabwesend nach der Flasche mit dem Valium. All diese unbewussten Handlungen führte Jamie jeden Morgen wie ein Hochseilakrobat aus, der immer mit schlafwandlerischer Sicherheit auf derselben Stelle landete. Aber an diesem Morgen schoss ihm beim Aufschrauben der Pillenflasche ein Gedanke in den Sinn.
    Wenn es immer so weiterginge?, fragte er seine geöffnete Handfläche. Wenn ich diese Pillen für den Rest meines Lebens nehmen müsste? Wenn ich immer in diesem leeren Haus aufwachen müsste, mit niemandem als Shep zur Gesellschaft? Wenn ...?
    Er sah sich in dem schäbigen Zimmer um und wieder flossen Tränen. Er ließ sich auf den Schrecken dieser Frage ein, die er seit dem Tod seines Onkels vermieden hatte.
    »Wenn es immer so weiterginge?« Die Frage klang hohl von den stummen Wänden wider, nur das Ticken der Uhr und das Summen der Fliege kamen zur Antwort.
    Widerwillig wagte sich

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