Der übersehene Mann: Roman
hinführen soll«, warf Rose ein. Sie goss Tee ein und reichte die Becher herum. »Einen kleinen Rosinenkeks dazu, Jamie? Frisch aus dem Ofen.« Sie schob ihm eine Platte unter die Nase. Erst beim Anblick der Rosinenkekse wurde ihm bewusst, dass er den ganzen Tag noch nichts gegessen hatte und hungrig wie ein Bandwurm war.
Er zog den Brief hervor und legte ihn ehrfurchtsvoll auf den Tisch.
»Eine Ly-dee-a Devine, ja wirklich.«
»Wer hätte das gedacht? Schöner Name. Hörst du das, Paddy?«
Paddy konnte gerade nicht antworten, da seine Dritten mit einem Rosinen keks kämpften. Also nickte er und hob stattdessen bestätigend die Hand.
Rose wischte sich die Hände an der Schürze ab und holte ihre Brille aus dem Fischmaul auf dem Kamin. Paddy hatte verstanden, dass Heirats vermittlung Roses Terrain war, und stand auf.
»Ich kümmere mich mal um den Rest von den Malerarbeiten«, sagte er zur Kuckucksuhr über dem Ofen, denn er spürte, dass man ihn nicht vermissen würde.
»Ja, mach das, Paddy«, sagte Rose, »und pass auf, dass du nichts auf meine Clematis kleckerst!«, rief sie hinter ihm her, als er hinausging, um die Haustür mit einer Büchse grüner Lackfarbe der Marke »Dublin Bay« zu verunstalten.
»Sind das die kleinen lila Dinger, die da an der Tür hochklettern, Rose?«
»So isses, Jamie, aber Paddy hat manchmal so ’ne unsichere Hand, und wenn er so was Wichtiges wie das jetzt in Angriff nimmt, weißte ...«
»Ach, das kenn ich auch«, unterbrach Jamie sie, denn er kannte Roses bemerkenswerte Art, von der Sache abzukommen, und jetzt brannte er darauf, ihre Meinung zu Miss Devines Brief zu hören.
»Der Herr im Himmel schütze uns, was für eine Handschrift, Jamie!« Rose las den Brief, nickte und seufzte leise, während Jamie den Tee schlürfte und die Rosinenkekse verschlang.
»Allerhand!« Rose nahm die Brille ab. »Eine sehr feine, ausgeglichene Dame, Jamie.« Eine leere Teetasse und ein leerer Teller vor einem Mann signalisierten ihr, dass sie ihn vernachlässigte, und so goss sie Jamie auto matisch Tee nach und schob ihm weitere Kekse zu.
»Aber es sieht so aus, als ob sie Protestantin wäre, Rose. Sieh mal hier, das mit dem Gottesdienst.«
Sie brach einen Keks entzwei. Sie machte nur selten Pausen zwischen essen und sprechen und verband lieber beide Aktivitäten miteinander.
»Die Sache mit der Religion: Das ist nur ein winziger Fleck am Horizont, wenn ich mal so sagen darf. Und unter uns, Jamie,« und sie beugte sich verschwörerisch zu ihm herüber, »mein Paddy und ich, wir hatten nie was gegen die anderen. Der Wahrheit die Ehre, sie arbeiten härter und sind nich so faul wie unsereiner. Wir können doch stundenlang auf einem Feld rumstehen, uns die Ärsche kratzen und kriegen nichts gebacken. Also, ich sag nich, dass mein Paddy und du in diese Kategorie gehören, aber weißte, Jamie, es gibt viele davon.«
»Tja, da haste wahrscheinlich recht, Rose.«
»Bestimmt, Jamie, ganz bestimmt. Also weißte, eine hart arbeitende protestantische Frau ist nich zu verachten, denn sie könnte dir mehr bringen als eine faule alte Republikanerin, die den ganzen Tag mit ’ner Kippe im Maul auf dem Sofa rumliegt und sich die Zehennägel lackiert. Und wo wir grad bei Kippen sind: Die meisten protestantischen Frauen trinken und rauchen nich, dazu kommen sie nämlich vor lauter Arbeit gar nich, Jamie.«
»Ach Gott«, war alles, was Jamie dazu sagen konnte, dem die Vorstellung von einer protestantischen Frau von Minute zu Minute besser gefiel.
»Nun lass uns mal all die guten Sachen an dieser Dame aufzählen.«
Rose breitete den Brief vor sich aus und zählte an den Fingern der linken Hand Lydia Devines unbestreitbar guten Eigenschaften ab.
»Nun, Jamie, erstens: Sie is ungefähr so alt wie du, und das heißt, sie is vernünftig und nich so eine kleine Flunkerin, die einem Mann den Kopf verdreht und sich nichts dabei denkt. Sie is also selbst schon in so’m Alter und sitzt selbst schon sozusagen im Glashaus, dann wird se ja auch keinen Stein werfen, denk ich mal so, denn keiner von uns wird jünger, so is das Leben nun mal.« Jamie nickte und nahm sich noch einen Rosinen keks. Die Diät war vergessen.
»Zweitens: Sie hat ’ne gute Arbeit und Gott weiß, dass das heutzutage eine Seltenheit is, und sie muss Kinder mögen, denn sonst würde sie denen nich was lernen wollen, wenns nich so wär. Und ich sag dir, das is ein gutes Zeichen bei ’ner Frau, das heißt doch, dass du mit ihr vielleicht
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