Der übersehene Mann: Roman
Sechsundachtzig und Neunundachtzig hielten sich eng beieinander. Sie sprachen nicht, sondern beugten sich sofort zum Arbeiten herunter.In fünf Stunden würden sie mit einem Becher Tee und einem Stück Brot belohnt werden.
Wer für faul befunden wurde oder gesprochen hatte, bekam kein Essen und musste hungrig weiterarbeiten.
Bald bewegten sich alle zwanzig im qualvollen Rhythmus des Erntens über das Feld, ihre Körper bildeten auf dem Feld einen Fries halb runder Figuren. Bartley lief hinter ihnen her und passte auf, dass sie keine Kartoffeln übersahen; ab und an verspürte er den Drang, die Peitsche nieder sausen zu lassen oder mit dem Stiefel in ein hochgerecktes Hinterteil zu treten.
Sechsundachtzig und sein Partner arbeiteten im Gleichklang und teilten stumm ihr Los. Sie suchten im matschigen Erdreich zwischen Würmern und Käfern mit den Händen nach den Knollen, holten sie heraus und warfen sie in die Körbe, die schwerer wurden, je weiter sie die Reihe herunterliefen.
Um ein Uhr der wunderbare Anblick von Mrs Doyle in ihrer geblümten Schürze mit zwei großen Taschen. Sie setzte ihre Last am Tor ab und rief die großen und kleinen Männer zu sich. Die Jungen rannten zu ihr, wischten sich die dreckigen Hände an den Hosen ab und freuten sich auf ihre hart erarbeitete Belohnung.
Mrs Doyle zog die durchweichten Verschlüsse aus Zeitungspapier aus den Teeflaschen und füllte die auf dem Rasen aufgestellten Zinnbecher. Dann packte sie frisch gebackene Brötchen aus und reichte sie herum, jedes dick mit selbstgemachter Butter und Marmelade bestrichen. Was für ein Genuss! So weit entfernt von dem altbackenen Brot mit Sauce entfernt, das ihre tägliche Kost war.
Im Rattern des Busses und später beim Einschlafen war es nicht die mühsame Arbeit des Tages, die die Waisen beschäftigte, sondern das Lächeln von Mrs Doyle, mit dem sie ihnen die Brötchen gegeben hatte.
Ein lächelnder Erwachsener an einem langen, harten Tag – eine Selten heit, ein Geschenk.
17
Am Morgen nach seinem unglückseligen Zusammenstoß mit dem dreisten Chuck in O’Sheas Bar kam Jamie langsam wieder zu sich.
Er lag still in dem zerwühlten Bett, starrte einen feuchten Fleck an der Decke an und ließ langsam den Film mit den Ereignissen der letzten Nacht ablaufen. Er sah sich wieder oben auf dem Barhocker sitzen, wie er den Saal mit seiner volltönenden, bewegenden Musik füllte. »Ich hab selten so ’n gutes Akkordeon gehört wie heute Abend!«, hatte Declan gesagt. Und dann hatte sich die Szene verdunkelt: Besudelt von dem schrillen Geschrei dieses kleinen Bastards. »Maria und Jesus!«, fluchte Jamie.
Er versuchte sich vorzustellen, wie großartig der Abend geworden wäre, wenn er nicht von Sproules widerlichen Worten zur Weißglut getrieben worden wäre. Aber das konnte er sich gar nicht mehr vorstellen, der Abend war kaputt gemacht worden, wie ein Tropfen Tinte klares Wasser trübt.
Er löste sich von diesen dunklen Gedanken, legte vorsichtig die Decke zur Seite, blieb eine Weile auf dem Bettrand sitzen und starrte auf seine Füße. Das rote Linoleum war durch Jamies Angewohnheit, morgens grübelnd auf dem Bettrand sitzen zu bleiben, vom Abrieb rosa geworden.
An diesem Morgen saß er noch etwas länger dort als sonst und dachte über sich und seine Einsamkeit nach dem Tod seines geliebten Onkels Mick nach. Mit seinem Tod war sein schönes Leben zu einem jähen Endegekommen. Seine Einsamkeit fühlte sich an, als würde ununterbrochen Schnee fallen, während ein scharfer Wind pfiff und die Tage und Nächte in Dunkelheit getaucht waren. Er trauerte jetzt schon zehn Monate und ein Tag war wie der andere.
Dr. Brewster nannte das Depression und so behandelte er es auch, aber Jamie wusste genau, dass er mehr als Pillen brauchte. Das Leben verlangte von ihm, dass er für sich selbst die Verantwortung übernahm, kurz, dass er zum Mann wurde. Aber wie sollte aus dem Kind, das nie Kind hatte sein dürfen, plötzlich ein Mann werden? Dafür müsste er gewaltige emotionale Abgründe überwinden.
Er versuchte, nicht ins Grübeln zu kommen, und versetzte sich lieber wieder in die Vergangenheit, in der sein Onkel noch gelebt hatte und er glücklich gewesen war.
Sein Blick fiel auf das Brigid-Kreuz, das neben dem Fenster zum Staubfänger geworden war. Sein Onkel hatte es unter Schmerzen kurz vor seinem Tod noch selbst angefertigt. Darunter hing ein Foto des lächelnden jungen Mick an seinem Hochzeitstag mit steifem Kragen und dem
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