Der übersehene Mann: Roman
bestürzte sie, dass ihre Schwester mit zunehmendem Alter immer mehr zum Flittchen wurde, und fragte sich, ob ein Mann im Spiel war. Und wenn, dann helfe ihm Gott!
»Warum kommst du nicht mit, Gladys«, fragte Lydia und versuchte etwas Begeisterung in ihre Stimme zu legen.
»Ich habe noch zu arbeiten, liebe Lily.« Gladys stand eingeschnappt vom Sofa auf und glättete ihr Kleid.
»Sie heißt Lydia, nicht Lily!«, warf Elizabeth ein und stellte sich auf einen Zweikampf ein. Sie starrte ihre Schwester eisig und ohne mit der Wimper zu zucken an. Angespannte Stille.
Lydia sah von einer zur anderen. Selten hatte sie ihre Mutter so feindselig gesehen. »Seht mal, mir ist es ganz egal, wie ich genannt werde, ja?«
»Dir vielleicht, Lydia, aber mir nicht.«
Als sich die ältere Schwester zum Gehen anschickte, versuchte Gladys die Wogen mit einem beschwichtigenden Kommentar zu glätten.
»Die Köchin hat heute Abend fünfzehn Personen zu bewirten. Ich muss hierbleiben, um die Aufsicht zu führen«, sagte sie. Lydia nickte, aber ihre Mutter ignorierte sie.
Mit diesen säuerlichen Worten verabschiedeten sie sich. Lydia fragte sich, warum ihr Taufname solche Feindseligkeit zwischen den Schwestern weckte. Vielleicht war dieser Urlaub in Portaluce, auf den sich ihre Mutter so sehr gefreut hatte, ja doch keine gute Idee gewesen.
19
Jamie hatte den Reisevorbereitungen noch keine Aufmerksamkeit geschenkt. Der Brief war geschrieben und an Miss Devine abgeschickt worden, und in Gedanken beschäftigte er sich nun mit ihrer ersten Zusammenkunft. Wenn er sich Lydia vorstellte, verwob sich das Bild seiner lang verlorenen Mutter mit dem seiner lieben Tante Alice und eine vollkommene Frau entstand, leuchtend wie ein Sonnenstrahl am Himmel. Er sah ein ebenmäßiges ovales Gesicht vor sich mit Augen so blau wie die Eier von Singdrosseln. Und ein blendendes Hollywoodlächeln.
In zwei Stunden würde Paddy ihn abholen kommen und zum Bahnhof nach Killoran bringen, wo er den Zwei-Uhr-Bus nehmen wollte. Er hatte den Tieren Futter gegeben und selbst auch etwas gegessen. Da er die Diät einhielt, hatte er das fette Frühstück gegen Tee und Toast ausgetauscht. Und jetzt, ermahnte er sich, musste er seine Sachen packen, denn das tat man so, bevor man in die Ferien fuhr. Sein letzter Urlaub lag fünfzehn Jahre zurück. Da hatte er ein paar Tage mit Onkel Mick bei dessen Schwester Violet in Portaluce verbracht, die ein wunderbares Haus mit Blick auf die Promenade gehabt hatte. Leider weilte sie auch nicht mehr unter den Lebenden und ihr Haus war zu einer Eisdiele namens Schneekoppe umfunktioniert worden.
Damals hatte Onkel Mick allerdings gewusst, was man packte. Jamie war ratlos, was er in einen Koffer oder eine Tasche packen sollte (oder was man nun auf solche Ausflüge mitnahm). Er saß mit seinem BecherTee im Lehnsessel, rauchte eine Woodbine und fragte sich, ob er Tante Alices Koffer unter Micks Bett hervorziehen sollte. Aber wenn er es sich recht überlegte, war er etwas zu groß. Was sollte er denn überhaupt mitnehmen?
Er hatte sich am Abend zuvor in der Zinnwanne am Feuer gut abgeschrubbt. Erst nach diesen seltenen Ereignissen wechselte er die Unterwäsche – nach vierzehn Tagen oder sogar einem guten Monat. Also würde er Rose McFaddens Tasche mit der sauberen Unterwäsche eine ganze Weile nicht benötigen. Er sah auf seine Füße hinab und dachte: Vielleicht neue Socken, denn ich laufe bestimmt viel herum, wenn ich mein Rad nicht dabeihabe.
Er ging in sein Schlafzimmer auf die Suche. Irgendwo musste er noch welche haben. Schließlich kramte er aus einer Kommoden schublade ein ordentliches Paar hervor und legte es aufs Bett. Dann holte er seinen schwarzen Anzug aus dem Schrank – die einzig annehmbare Kleidung, die er hatte – und legte ihn neben die Socken. Der Anzug war von Mick, vielleicht etwas zu kurz und unter den Achseln etwas zu eng, weil sein Onkel kleiner und dünner als er gewesen war. Aber bisher hatte er ihn ja auch nur die eine Stunde am Sonntag zur Messe getragen. Zwei Tage am Meer waren vielleicht etwas anderes, dachte er jetzt. Die schwarzen Socken passten zum Anzug, aber was war mit den Schuhen? Sein bestes Paar war senfgelb; er hatte die Schuhe bei Harveys aufgrund ihrer Farbe und ihres ungewöhnlichen Stils mit sehr großem Rabatt erstanden. Die Spitzen waren gebogen und ähnelten Bananen, aber Harvey hatte darauf bestanden, dass das der neue Westernstil sei und ganz Amerika »verrückt nach ihnen« war.
Weitere Kostenlose Bücher