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Der übersehene Mann: Roman

Der übersehene Mann: Roman

Titel: Der übersehene Mann: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christina McKenna
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nicht direkt fragen.
    »ICH BLEIB NUR NE WINZIG KLEINE MINUTE. MILDRED WARTET DA DRÜBEN SCHON AUF MICH.«
    Jamie drehte sich um und hob die Hand. Mildred sah hinter einem Büschel Pampasgras hervor wie eine Botanikerin aus einem Gewächshaus. Sie lächelte und winkte zurück.
    »GOTT, JAMIE ICH MUSSTE WIRKLICH WAS DURCHMACHEN IN DER LETZTEN ZEIT.« Doris spielte mit einer merkwürdigen Medaille, die sie sich ans Revers gesteckt hatte.
    »Ich hab davon gehört, Doris. Ein Wunder, dass er dich nich umgebracht hat.«
    »WAS HAST DU GESAGT?« Doris beugte sich vor. »WEISST DU, MEINE OHREN SIND NICHT MEHR DAS, WAS SIE MAL WAREN. DER SCHOCK UND DAS ALLES, DAS WAR ZU VIEL FÜR MICH.«
    »ICH HAB GESAGT, EIN WUNDER, DASS DU NICH UMGEBRACHT WORDEN BIST!«, brüllte Jamie nun zum Erstaunen der Anwesenden. Die Ärzte Bradley-Carr waren plötzlich fertig mit dem Frühstück und bugsierten Minnie und Daisy aus dem Raum, in dem die Unterhaltung inzwischen so laut war, dass das Porzellan zu klirren begann.
    »Mummy, warum schreit der Mann mit den komischen Schuhen so laut?« Minnie starrte Jamie entsetzt an.
    »Weisst du, Jamie, er hat mir die Pistole an den Kopf gehalten. SO.« Doris führte es vor, indem sie zwei Finger an Jamies Ohr hielt.
    »UND HAT ER DENN ABGEDRÜCKT, DER SCHEISSKERL?«, schrie Jamie, jetzt ganz bei der Sache.
    »GOTT SEI DANK NICHT, JAMIE, WENN ER DEN ABZUG GEZOGEN HÄTTE, WÜRDE ICH DOCH JETZT NICHT HIER MIT DIR REDEN.«
    »Ja, stimmt, da haste auch wieder recht.«
    Doris hatte noch eine ohrenbetäubende Ansage für die frühstückenden Gäste auf Lager.
    »ABER WAS ICH DIR SAGEN WOLLTE, JAMIE, DEIN GELD IST SICHER. ROSE MCFADDEN HAT MIR GESAGT, DU HÄTTEST DIR SORGEN GEMACHT, UND DAS IST NUR ALLZU VERSTÄNDLICH, DENN WIR BRAUCHEN ALLE ’N KLEINEN NOTGROSCHEN! ABER ER HAT NICHTS GEKRIEGT, GAR NICHTS! DU HAST IMMER NOCH DEINE DREITAUSENDEINHUNDERTUNDNEUNUNDZWANZIG PFUND MINUS DAS BISSCHEN, WAS DU FÜR DIESEN KLEINEN URLAUB ABGEHOBEN HAST.«
    »DA BIN ICH ABER ERLEICHTERT.«
    Jamie war rot geworden und rieb sich das rechte Ohr.
    »GOTT, DU KANNST ES DIR NICHT VORSTELLEN, JAMIE, ICH WAR AM BODEN ZERSTÖRT. ICH KONNTE GAR NICHTS MEHR HÖREN. DESWEGEN HAT DR. BREWSTER MICH HIERHERGESCHICKT.«
    Doris sah Jamie anerkennend an.
    »GOTT, JAMIE, DU SIEHST RICHTIG GUT AUS. EIN GROSSARTIGER ANZUG, DEN DU DA ANHAST.«
    »OCH, DANKE.«
    Eine peinliche Stille folgte.
    »UND ICH NEHME AN, DU BIST HIER WEGEN DEINEM RÜCKEN, ODER?«
    »GENAU. DR. BREWSTER HAT GENAU DAS RICHTIGE GEMACHT, DORIS. HIER IST ES EINFACH GROSSARTIG. UND SCHÖN RUHIG FÜR DEINE OHREN.«
    Dem konnten einige der anderen Gäste jetzt nicht mehr zustimmen.
    Die Küchentüren schwangen auf und Jamie wurden Tee und Toast serviert. Doris stand auf. Sie war rot von der Anstrengung des Schreiens und ihr war schwindlig von Jamies übermächtigem Parfüm.
    »MACHS GUT, JAMIE. ICH ÜBERLASSE DICH MAL DEINEM TEE.« Sie hielt die Tasche an den Busen.
    »SIEHT WIRKLICH NACH EINEM GUTEN TEE AUS, JAMIE!«
    »GANZ BESTIMMT, DORIS. WIR SEHEN UNS SPÄTER SICHER NOCH.«
    Doris wackelte durch das Esszimmer auf ihre Schwester zu.
    »GOTT, JAMIE SIEHT GUT AUS«, verkündete sie in einem hohen Flüsterton, als sie sich setzte. »UND ER HATTE EINEN WUNDERBAREN DUFT! ABER OHNE EINE GUTE FRAU, DIE SICH UM IHN KÜMMERT, IST ER VERLOREN, EIN MANN SEINES ALTERS!«
    »Ich weiß«, sagte Mildred und nickte wissend. »Und dazu hat er all das Geld auf
deinem
Sparkonto.«
    Beide Damen sahen Jamie, der gerade dabei war, Tee und Toast hastig hinunterzuschlingen, sehnsüchtig durch das Pampasgras an.
    »Er sieht aus, als hätte er nicht einen Penny«, sagte Elizabeth Devine, die das Schauspiel mit großem Interesse verfolgt hatte. »Wenn er doch so viel Geld auf dem Sparbuch hat, sollte man meinen, er könnte sich etwas mehr Mühe mit seinem Äußeren geben.«
    Lydia wollte sich nicht mehr durch die schamlosen Kommentare ihrer Mutter in Verlegenheit bringen lassen. Sie stand auf.
    »Zeit für unseren Spaziergang, Mutter.«
    Als sie den Raum verließen, warf Lydia dem merkwürdigen Mann einen Blick zu. Zu ihrer Überraschung sah er sie an. Sie lächelte ihn an, aber er wandte schüchtern den Blick zur Seite. So eine verlorene Seele, dachte Lydia, als sie ihre Mutter in ihr sicheres Zimmer lenkte.

22
    Am Nachmittag desselben Tages wusste Lydia nicht so recht, was sie mit sich anfangen sollte. Ihre Mutter hatte sich hingelegt, um wie üblich vor dem Abendessen ein Nickerchen zu machen.

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