Der übersehene Mann: Roman
Lydia wäre gerne im Schlafzimmer geblieben und hätte gelesen, aber ihre Mutter schnarchte so laut, dass das vollkommen ausgeschlossen war.
Sie konnte sich natürlich ins Wohnzimmer setzen, aber dann riskierte sie ein neuerliches Zusammentreffen mit Gladys, musste ein Glas Portwein annehmen und weitere Ratschläge über die verschiedenen Wege zum Herzen eines Mannes über sich ergehen lassen.
Nein, sie würde einfach hinausgehen und sich eine ruhige Stelle mit schönem Ausblick auf den Strand suchen, sich dort einfach nur umsehen oder in ihren Roman vertiefen. Sie schrieb ihrer Mutter einen Zettel, dass sie in einer Stunde wieder zurück wäre, und legte ihn auf ihren Nachttisch. Dann legte sie ihr schottisches Plaid zusammen und verstaute es mit dem Roman von Georgette Heyer im Korb.
Sie warf einen Blick in den Spiegel und war ausnahmsweise einmal erfreut. Die Schulferien und die Meeresluft taten ihr gut. Ihre Augen leuchteten, sie hatte eine gesunde Gesichtsfarbe. Sie hatte den Rat ihrer Tante befolgt und einen knielangen Cordrock und eine Chiffonbluse mit einem Spitzenjabot gewählt, statt des üblichen einfachen Etuikleides. Das Grün der Bluse stand ihr sehr gut. Gladys hatte recht. In Zukunft würde sie mehr in dieser Farbe kaufen.
»›Zeit, mal mit dem Leben anzufangen, Liebes.‹ Ja, vielleicht mache ich das jetzt mal«, sagte Lydia zu ihrem Spiegelbild. Ihre Mutter regte sich im Bett und sie verließ das Zimmer so schnell und so leise wie möglich.
Es war angenehm warm, wenn auch leicht bewölkt, als Lydia vor die Tür trat. Eine starke Brise blies vom Atlantik her, als sie auf der schmalen Promenade um einen großen Felsvorsprung herum am Strand entlangging.
In der Ferne schimmerte der Sand wie ein goldener Schal und zog müde Reisende und Sonnenanbeter an. Vielleicht sollte sie auch zu den Strandliebhabern hinuntergehen, die sich dort vergnügten. Aber eigentlich wollte sie nur allein sein. Als sie die nächste Ecke umrundet hatte, war sie froh, einen Platz in der Sonne zu entdecken. Dort legte sie ihr Schottenplaid aus und setzte sich. Vorsichtig zog sie das lederne Lesezeichen – das Weihnachtsgeschenk einer ehemaligen Musterschülerin, Susan Peake – zwischen den Seiten 128 und 129 hervor und begann zu lesen.
Jamie stand in dem engen Anzug und den auffälligen Schuhen vor den verzierten Toren des Ocean Sprays und fragte sich, was er wohl tun sollte. Um halb fünf war es noch zu früh, um in eine Kneipe zu gehen. Er schlenderte die Straße hinunter und wollte sehen, was im Kino lief, doch als er am Odeon ankam, hatte der Film längst angefangen. Ein großes Plakat neben der Tür verkündete, dass
Der junge Frankenstein
schon um halb drei begann.
Er wandte sich nach links und ging die Hauptstraße hinunter. Es bedrückte ihn etwas, als er an den Läden und Cafés vorbeikam, denn er erinnerte sich noch gut an seinen letzten Besuch mit seinem lieben Onkel. Wie glücklich er damals gewesen war! Und hier war auch Cassidys Laden mit den Süßigkeiten, in dessen Schaufenster bunte Schachteln und Bonbongläser ausgestellt waren. Er dachte wieder daran, dass Mick eine Schachtel Marlboro für sich und eine große Tüte gemischte Lakritze für ihn gekauft hatte. Er wollte seinem Onkel die Ehre erweisen und um der guten alten Zeiten willen dasselbe tun.
Der Laden war dunkel und schmal und glich eher einem Flur als einer Verkaufsfläche. Er ließ die Glocke auf dem Tresen erklingen und hörte ein Schlurfen, gefolgt von einem brüchigen »Komme ja schon!«. Er wunderte sich, sah sich überall um, konnte aber niemanden entdecken. Die Regale hinter dem Tresen waren mit Bonbonschachteln und Schokoladenriegeln zugestellt. Am Fenster waren einige so verblichen, dass nur noch der Geist einer lächelnden Schönheit oder eines Blumenstraußes zu erahnen war. Jamie wollte sich eigentlich einen Riegel Schokolade gönnen, aber als er den Zustand der Verpackung sah, änderte er seine Meinung. Die Schokolade war bestimmt geschmolzen, das war nur Geldverschwendung.
Er schlug noch einmal auf die Glocke, und auf einmal sah er zwei knotige, haarige Hände, die sich um den Tresen klammerten. Auch der Kopf eines kleinen Mannes tauchte langsam auf. Über einer Drahtbrille prangten buschige Augenbrauen und aus seinen Ohren wuchsen schlohweiße Haarbüschel. Er war so gebeugt, dass sein stoppeliges Kinn gerade eben über den Tresen lugte.
»Eine Tüte gemischte Lakritze und zwanzig Marlboro, bitte.«
»Was?« Der kleine
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