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Der übersehene Mann: Roman

Der übersehene Mann: Roman

Titel: Der übersehene Mann: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christina McKenna
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Mann legte eine Hand hinter sein Ohr und verzog verwirrt das Gesicht.
    »Eine grosse tüte gemischte Lakritze«, schrie Jamie, »und zwanzig Marlboro, bitte.«
    Ihm kam es so vor, als hätte er den Großteil des Tages geschrien.
    Der Ladeninhaber rieb sich das Kinn und nickte. Er schlurfte zu einer schiefen Leiter und kletterte an einem Regal hoch. Jamie sah ihm zu, wie er mit einem großen Gefäß mit Lakritze kämpfte, und erwartete fast, dass er unter dem Gewicht von der Leiter fallen würde. Doch nach einigen Umständen hatte er es schließlich geschafft und versuchte dann, sich wieder etwas aufzurichten.
    Das Abwiegen und Eintüten der unterschiedlichen Sorten von Lakritze schien den alten Mann über die Maßen zu beanspruchen. Er keuchte und schnaufte und kritzelte zittrige Ziffern mit dem Bleistift in eine Kladde. Jamie fürchtete, dass der winzige Mann ohnmächtig werdenund vor lauter Anstrengung, das Gewünschte zusammenzustellen, sterben würde, und dass man ihn für seinen Tod verantwortlich machen würde. Deswegen nahm er seine Süßigkeiten an sich und verließ eilends den Laden.
    Drei Häuser weiter sah er die Schneekoppe und beschloss, ihr seiner Tante Violet zuliebe einen Besuch abzustatten. Er drückte die Glastür auf und ein kratzendes Klingeln ertönte. Es war äußerst seltsam, mitten in dem zu stehen, was einmal das Wohnzimmer seiner lieben Tante gewesen war. Wo der Kamin gewesen war, dröhnte jetzt eine Eismaschine und am früheren Platz der Couch stand jetzt eine Glasvitrine mit verschiedenfarbigen Eissorten. An den Wänden und auf den Tischen waren Souvenirs aller Art ausgestellt.
    Jamie betrachtete die Auslagen: Kobolduhren, Schlüsselringe mit reetgedeckten Hütten, Kulis und Bleistifte aus Knüppeln, Schmuck »Für Sie und für Ihn«, Manschettenknöpfe mit irischen Kleeblättern, Connemara-Broschen, keltische Kreuze (»Silberkette gratis dazu«), Devotionalien aller Art, der Heiland am Kreuz auf einem Berg (»original irischer Torf«), verschiedene Gipsbüsten des heiligen Patrick – auf einem Feld inmitten einer Schafherde, eine Schlange mit bloßen Händen zu Boden ringend und auf einem Berg kniend, den Kopf im Gebet gesenkt. Es gab Gegenstände zum Gebrauch und Nippsachen: Körbe aus Muscheln, Engel aus Buntglas, Schals mit Aran-Muster, karierte irische Topflappen, Taschentücher aus irischem Leinen, eine Gruppe Bauernhoftiere (»Auf dem Transport beschädigt« und »Ausverkauf«) – ein rosa Schwein mit einer eingedrückten Schnauze zum halben Preis, ein Deutscher Schäferhund ohne Ohren, eine dreibeinige Kuh, ein Grüppchen Entenküken mit ihrer einbeinigen Mutter (»Das andere Bein ist hinter dem Tresen, bitte fragen Sie danach.«).
    Die kleine Katie Madden zog ihrer Puppe Mindy gerade ein Ballettkostüm an, als sie die Ladenklingel hörte. Ihre Eltern hatten ihr aufgetragen, auf den Laden aufzupassen, solange sie zu Mittag aßen. Sie setzte Mindy auf der Fensterbank ab und kam ihrer Pflicht nach.
    Im Laden stand ein schwarz gekleideter Mann. Er hatte eine beschädigte Ente in der Hand und betrachtete sie genau.
    Jamie hörte eine Kinderstimme hinter sich. »Kommen Sie zurecht?«
    Hinter ihm war ein molliges, etwa zehn Jahre altes Mädchen aufgetaucht. Sie hatte ein rosafarbenes, sommersprossiges Gesicht und betrachtete Jamie aufmerksam mit kleinen Augen hinter einer rosa Brille. Ihr flaumiges blondes Haar war zu hohen Zöpfen geflochten, die mit kleinen Fellhäschen zusammengehalten wurden. Sie hatte die Arme verschränkt, die offensichtlich vor Kurzem zu viel Sonne abbekommen hatten. Ihre Hautfarbe glich fast der ihres ärmellosen rosa Kleides.
    Verlegen stellte Jamie die Ente zurück.
    »Ja, ich guck mich nur ein bisschen um.«
    Er las die Preisliste über ihrem Kopf durch und betrachtete die unterschiedlichen Eissorten in der Vitrine. »Welches ist denn das Beste?«
    »Das Rosa ist das Beste«, sagte Katie ohne zu zögern und guckte Jamie hoffnungsvoll an.
    »Ja, dann nehme ich das, bitte.«
    Sie lächelte. »Im Becher oder als Waffel-Sandwich?«
    Jamie kratzte sich den Kopf.
    »Als Sandwich schmeckt’s viel besser.« Katie wollte gerne das große Messer benutzen, das ihr Vater ihr ausdrücklich verboten hatte. Falls jemand ein Waffel-Sandwich wollte, sollte sie ihn rufen.
    Nachdem sie die verbotene Arbeit ausgeführt und den Eisblock guillo tiniert hatte, ohne sich zu schneiden, fühlte sie sich mutiger. Ihr fiel ein, dass ihre Mutter immer sagte, je länger man einen Kunden

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